Begleittext für den Katalog "Bildgestützte Räume" von Markus Heinzelmann, 1998
"Die eigenen vier Wände" lautet der Titel einer Installation, die Carsten Gliese im Jahr 1995 im Kunsthaus Essen realisiert hat. Es ist ein Name, der Assoziationen weckt an Gewohntes, geradezu Heimeliges, an einen Ort auf jeden Fall, an dem man jeden Quadratmeter zu kennen glaubt. Aber der Raum der "eigenen vier Wände" war ein leerer Raum, bevor ihn Carsten Gliese betrat, und bedeutete lediglich als Ausstellungsraum ein potentielles Zuhause für den Künstler, der dort seine Ideen umsetzen und präsentieren konnte . Carsten Gliese hat im Kunstraum Essen von verschiedenen Standpunkten aus Fotografien angefertigt. Ausgehend von der 'Flachware' des fotografischen Abzugs hat er die perspektivischen Fluchtpunkte errechnet, die das Auge der Kamera mit den anvisierten Objekten im Raum unsichtbar verbindet. Diese Fluchten hat er als hölzerne, weißbemalte Architektur in die Ausstellungshalle gebaut, so daß nunmehr kompakte Wände den natürlichen Vorgang des Sehens oder besser: den medialen Akt der Lichtbildnerei repräsentieren. Die Selbstreferentialität dieses Konzeptes erinnert an Strategien der Minimal Art, die bereits zum "look" geronnen war, als Carsten Gliese geboren wurde. Die Künstler seiner Generation interessieren sich heute in hohem Maße für die Avantgarde der späten Fünfziger und frühen Sechziger Jahre, ohne jedoch die für die Spätphase des Stils typische "offenheraus feindselige [Haltung] gegenüber einem Publikum" einzunehmen, das, wie Peter Schjeldahl es beschrieben hat, "bereit schien, jedes Ausmaß an Rätselhaftigkeit, Langeweile und sogar Brutalität zu dulden." 1 Andrea Zittel, Tobias Rehberger, Joep van Lieshout, Thomas Demand, Carsten Gliese - alle etwa im gleichen Jahr geboren - bedienen sich minimaler konzeptueller Strategien und spielen dabei mit dem Thema der "eigenen vier Wände". Zittel variiert den Gedanken des Reihenhauses, indem sie serielle Wohneinheiten baut, und löst das urbane Konzept der Siedlung (und der klaren Form) auf diese Weise in ortsungebundene Splitter auf. Van Lieshout entwickelt das modulare Prinzip der Minimal Art in seinen mobilhomes weiter, eine Art Baukastensystem, das auf einer bereiften Grundeinheit basiert, an die je nach Wunsch Wohn-, Schlaf- oder Arbeitsräume angestückt werden können. Rehberger beschäftigt sich am stärksten mit dem "look", wenn er die Wohnphantasien seiner engsten Freunde im Design der Siebziger Jahre entwirft. Der Fotograf Demand, der Carsten Gliese nicht nur aufgrund der Verbindung von Fotografie und Skulptur vielleicht am nächsten steht, baut Interieurs aus Papier, die auf den großformatigen Abzügen wie ein ästhetischer overkill des Minimalismus wirken. Allen gemeinsam ist darüber hinaus die Betonung der Körperlichkeit, die einerseits als wärmend und schützend empfunden wird und zugleich mit einiger Distanz - sei es heiter, analytisch oder zynisch - als Bruchstück im globalen Raum wahrgenommen wird. II. Die Installation "Bildschleuse", die Carsten Gliese 1998 in der Tübinger peripherie realisiert hat, steht für diesen ambivalenten Umgang mit den Kategorien Geborgenheit und Zersplitterung. Der Künstler Milo Köpp hat in seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung den Begriff des 'autoritären architektonischen Eingriffs' geprägt. Er bezieht sich damit auf die architektonische Reduzierung des Ausstellungsraumes auf zwei schmale hohe Gänge, die den Betrachter einengen und ihn geradezu zwingen, einen vorgeschriebenen Weg zu gehen. Auf diesem Weg passiert er einen Punkt, an dem sich zwei in die Holzwände eingelassene Videomonitore gegenüberliegen. Auf den Schirmen setzt sich unter Begleitung eines metronomisch tönenden Taktes ein Bild aus einzelnen Motiven des Ausstellungsraumes zusammen, zumeist drei oder vier isolierte Elemente, die wie Dominosteine aneinandergehängt werden. Hat die Motivkette eine gewisse Gestalt gewonnen, wird sie aus dem Bildraum hinausgeschoben, so daß lediglich ein Detail als Anknüpfungspunkt für das anschließende Bild stehenbleibt. Auch dies ist ein autoritärer Eingriff, denn Gliese verstellt nicht nur die gewohnte Sicht auf den Ausstellungsraum, er entscheidet darüber hinaus, welche Fragmente dem Betrachter an die Hand gegeben werden, um sich ein Bild von seinem Umraum zu rekonstruieren. Die Autorität des Künstlers, die auf der ungeschriebenen Vereinbarung beruht, daß er die Fäden der Erzählung in der Hand behält, wird hier auf drastische Art bloßgelegt. Wie gestaltet sich aber die Art des Erzählens bei Carsten Gliese? Der Besucher wird empfangen und geleitet - oder geschleust, wie es der Titel als Kommentar zur Zwiespältigkeit des Geborgenseins ausdrückt - und daraufhin den Splittern einer Wirklichkeit ausgeliefert, deren unmittelbare Erkenntnis ihm verschlossen bleibt. Der Künstler-Autor Gliese ist also im traditionellen Sinne allwissend: Nur er kennt die ganze Geschichte, die sich hinter den sequentiell addierten Fragmenten verbirgt, die die Videomonitore preisgeben. Dabei nutzt er seine Position jedoch nicht, um uns mit Bildern, Geschichten, Erzählsträngen zu beliefern, die außerhalb dieses begrenzten selbstreferentiellen Systems liegen. Kein Gott aus der Maschine also, keine Lovestories. III. Dem schroffen Zurückweisen des freien Erzählens im Sinne von Erfinden, Phantasieren, Fabulieren steht in der Kunst von Carsten Gliese überraschenderweise ein alchimistisches Moment gegenüber, wenn auch ohne esoterische Begleitmusik. "Ich fotografiere, um den Raum zu verändern", kommentierte der Künstler im Jahr 1994 seine Methode, mit Hilfe von fotografischem Material Sehpyramiden zu konstruieren und diese dann als architektonische Eingriffe im Raum zu realisieren. Das Moment des Verwandelns verbindet die Rekonstruktion (des fotografischen Blickes) mit der Konstruktion (einer künstlichen Welt). Als Angelpunkt dient der Vorgang des Fotografierens, der optische und chemische Momente auf sich vereint, die einen logisch und nachvollziehbar, die anderen verborgen und geradezu magisch.William Henry Fox Talbots (1800-1877) Kommentar aus der Pionierzeit der Fotografie macht diese Sonderstellung der Fotografie deutlich: "Das Vergänglichste aller Dinge, ein Schatten, das sprichwörtliche Sinnbild für alles, was flüchtig und vergänglich ist, kann durch den Zauber unserer natürlichen Magie und für immer festgehalten werden ... Werden bei irgend einem Vorgang vorerst vielleicht nur durch Zufall und in geringem Maße ungewöhnliche Erscheinungen erkennbar, so wird man diesen durch aufmerksame Beobachtung mit planmäßigen Versuchen unter Änderung der Bedingungen nachspüren, bis sich das Naturgesetz, das sich in ihnen offenbart, zu erkennen gibt und uns zu gänzlich unerwarteten Folgerungen führt, weitab von der alltäglichen Erfahrung und im Gegensatz zu dem, was man bisher glaubte." 2 Gliese nutzt die von Talbot beschworene natürliche Magie der Fotografie, allerdings nicht mehr als Instrument der wissenschaftlichen Erkenntnis der Welt, sondern um mit ihrer Hilfe die magischen Qualitäten unserer Welterkenntnis wiederzuentdecken. Die 'ungewöhnlichen Erscheinungen', von denen Talbot spricht, offenbaren sich zum Beispiel in der Serie von Raumaufnahmen, die Gliese mit Hilfe einer hohen Zahl von Mehrfachbelichtungen erstellt hat. 80 bis 100 Belichtungen bei jeweils unterschiedlicher Disposition der Lichtquelle waren nötig, um besondere Schattenwürfe im Raum geradezu skulptural herauszuarbeiten. Wie bei Talbot ist es der Schatten, das "Sinnbild für alles was flüchtig und vergänglich ist", dem mit Hilfe der Fotografie eine Materialität verliehen wird, die es in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis gar nicht besitzt. Zugleich hat Gliese einzelne architektonische Elemente 'weggeblitzt', das heißt die Materialität der Wände, Mauern und Böden unter der Flut des Blitzlichtes zum Verschwinden gebracht. Dieser Prozeß bleibt auf dem fotografischen Abzug sichtbar und läßt sich in Teilen als Vorgang für den Betrachter rekonstruieren, weil sich der Raum aus seinen Fragmenten zumindest in seinen konstruktiven Grundzügen erahnen läßt - und weil Unschärfen, Lichtkegel und bisweilen sogar zufällig im Bild sichtbare Kabel und Schatten von der Gegenwart des Fotografen zeugen. Daß das fotografische Material von dieser Zersplitterung des Aufnahmevorgangs in unzählige Teile überfordert ist, zeigen die empfindlich verschobenen Farbskalen der Abzüge, die Gliese weder bei der Vergrößerung noch im Fotoshop manipuliert. IV. Der flüchtige Ort, an dem sich die Gegenstände mit ihren Schatten verbinden, die Ideen mit der Wirklichkeit, jenes Zwischenreich, in dem sich Sehen und Erkennen, Konstruktion und Rekonstruktion begegnen, dort findet sich das bestimmende Thema der Kunst von Carsten Gliese. "Die eigenen vier Wände" des Künstlers eben. 1. Peter Schjeldahl: Minimalisms, in: Art of Our Time: The Saatchi Collection, Vol. 1, New York 1984, S. 11-24; hier zitiert nach der deutschen Übersetzung: Peter Schjeldahl: Minimalismus, in: Gregor Stemmrich (Hg.): Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden und Basel 1995, S. 556-588, Zitat S. 565. 2. Zitiert nach Wolfgang Baier: Geschichte der Fotografie: Quellendarstellungen zur Geschichte der Fotografie, München 1980, S. 83f.
Von der Fläche in den Raum - Fotografien und Installationen von Carsten Gliese