Gespiegelte Raumfragmente

Eröffnungsrede von Manfred Schneckenburger im Heidelberger Kunstverein, 2000


In den letzten 30 Jahren hat sich die Skulptur nicht zuletzt aus Annäherungen an die Architektur, aus Kreuzungen regeneriert. Nicht als traditionelle „Bauplastik“, nicht einmal als avanciertere „Kunst am Bau“. Hier geriet vieles zur Mésalliance. Wohl aber, indem sie Grundformen des Architektonischen aufnahm und verwandelte. In den 70er Jahren: Brücken, Türme, Korridore, Labyrinthe. Gaston Bachelards „Poetik des Raumes“ zog in die Plastik ein. In den 80er Jahren: „Modelle“ zwischen Architektur, Möbel und Projektionsraum für Erinnerungen, Assoziation.

In den 90er Jahren – ich spitze das aus nahe liegendem Anlass etwas zu – in den 90er Jahren also: Carsten Gliese. Er bestimmt das Verhältnis von Architektur und Skulptur durchaus neu. Er gibt dem schwanken Begriff „Rauminstallation“ sicheren Stand und einen direkten Klang. Er bestückt Räume nicht phantasievoll oder genau, sondern benutzt und übersetzt sie. Er formuliert sie unter anderen Bedingungen neu. Sein Zugriff gilt unmittelbar der Architektur und geht doch, wörtlich, auf Distanz. Seine Haltung ist Annäherung und Entfernung zugleich. Sie bestätigt den Bau und zielt doch auf die autonome Skulptur. Ich wüsste, außer dem früh verstorbenen Gordon Matta-Clark, keinen Künstler, der beide Gattungen so dicht ineinander verhakt und doch jede so sehr zu sich selber bringt. Gliese erschließt das bildnerische Potential des gebauten Raumes und gewinnt es für die Skulptur. Denn was dabei herauskommt, ist eine eindrucksvolle skulpturale Konstellation – keine Verschnitt. In früheren Arbeiten setzte er das Bauwerk dem Kameraauge aus. Die perspektivische Verkürzung machte aus Geraden steil zugespitzte Fluchten, die Gliese mit allen Schrägen und Verkürzungen penibel nachkonstruierte. Schon ein simpler Türausschnitt brachte so ungemein dynamische Gefüge hervor.

In Heidelberg folgt er einem anderen Konzept. Als ich gestern die Halle im Kunstverein betrat, war ich zunächst befremdet. Das bekannte Muster, Perspektiven nachzubauen, verfing nicht mehr. Dann entdeckte ich nach und nach das neue Prinzip. Der Raum unter der Empore ist partiell, mit seinen Seitenwänden, nach außen geklappt. Der Künstler versuchte meiner Vorstellungskraft mit dem Hinweis auf Schnittmuster auf die Sprünge zu helfen. Weil ich davon jedoch überhaupt nichts verstehe, werde ich diese mentale Hilfsaktion erst gar nicht vorstellen. Ich werde mich ohnedies hüten, Ihnen die Umklappungen Schritt für Schritt vorzuexerzieren und Ihre Vorstellungskraft damit um einen aufregenden imaginativen Akt bringen. Nur so viel, um ein wenig anzuschieben:

Die Installation hat ihren formalen Ausgangspunkt in der potentiellen Verschalung der architektonischen Grenzen des Raumes unterhalb der Empore. Gliese verkleidet dabei die Wände, einen schmalen umlaufenden Abschnitt der Decke und Boden und an der offenen Front auch die Balustrade mit den beiden Pfosten mit einem sieben Zentimeter starken Mantel aus Holz. Während er die Rückwand tatsächlich verschalt, sind die anderen Elemente aus der imaginären Verschalung der Seitenwände und der Frontpartie kombiniert. Wie bei einem mobilen Stellwandsystem zerlegte der Künstler diese in Teilstücke und schiebt sie zu freistehenden Architekturskulpturen zusammen. Der Betrachter kann - in seiner Vorstellung - den ganzen Aufbau auffalten und, so wie an einem Scharnier, an den ursprünglichen Ort zurückschwenken. Er muss seine Vorstellung dabei, gewiss, verschränken und verrenken, denn zumindest die Pfeiler wären einer realen Rückführung im Weg. Doch darauf kommt es eben nicht an. Das Ganze funktioniert nur im Kopf. Die alte Idee Duchamps, dass der Betrachter das Kunstwerk erschafft – auf verblüffende Weise aktualisiert und neu interpretiert!

Ein Spiel nach bestimmten Regeln, die zu entdecken sind. Das Verfahren klingt vertrackt. Das Ergebnis irritiert, ist jedoch von hoher Logik, Präsenz und Genauigkeit. Einer Präsenz zwischen sinnlicher Anschauung und rationalem Konzept. Zwischen handfester Realität und fiktiver Rekonstruktion, zwischen Stellage und Vorstellung. Dabei ist der Ausgangsraum von simpelstem Zuschnitt. Ein ungegliederter, rechteckiger Raumeinzug. Gliese macht daraus, ohne von den Spielregeln abzuweichen, einen mehrteiligen, kontrastreichen, asymmetrisch rhythmisierten Aufbau. Er schlägt z.B. die beiden Pfeiler einer einzigen Seite zu und bricht damit das langweilige Regelmaß. Er faltet die rechte Wand in drei Teilstücke und erreicht damit eine differenziertere gestufte Struktur. Er entscheidet, im Rahmen der Regeln, rein künstlerisch. Er ist auf dem Weg von der Schalung zur Skulptur.

Aber nicht genug. Diese Skulptur gewinnt ihre vollkommen eigenen Akzente und Gewichte. Als Auftakt eine Art T-Träger; eine elementare Formel für Tragen und Lasten, Statik und Konstruktion. Dann steht Durchblick gegen Anblick, offene gegen geschlossene Form: Grundphänomene des Raums, auf ihren knappsten Nenner gebracht. Decken und Boden unter der Empore, eigentlich Begrenzungen bar jeder Ausdrucksqualität, werden zu wichtigen Rahmenelementen von hoher plastischer, fast theatralischer Wirksamkeit.

Vor allem aber: die neue Abfolge hat sich von der Vorlage getrennt. Sie entwickelt sich aus eigenem Recht. Nach dem Auftakt des T-Trägers der Gang um die erste Wand: was frontal wie ein massives Volumen erschien, kompliziert sich zum rechtwinklig gestuften Überhang. Dann die rechte Wand: drei Teile, verschiedene Stufen, Versprünge – für den kargen Carsten Gliese fast schon opulent. Als ich gestern, in dicken Anführungszeichen, das Wort „barock“ in den Mund nahm, zuckte er leicht zusammen, aber im Rahmen seiner puristischen Verfahren ist das bemerkenswert reich. Ein schlüssiger Ablauf vom Einfachen zum vielfach Gegliederten. Umkehr macht keinen Sinn.


Ich weiß, das war eher Schwarzbrot als Torte. Eher eine Herausforderung an Ihre Vorstellungskraft als ein Ruhekissen für Empathie. Nicht einmal Metaphern taugen zur Auflockerung für diese nüchterne Präzision und doch bleibt das Kalkül keineswegs abstrakt, sondern bewegt sich sinnlich und lebhaft hin und her.