Carsten Glieses ‘Modell Osthaus’ - über Wahrnehmungsräume und Raumwahrnehmung

Begleittext aus dem Katalog "Modell Osthaus" von Birgit Schulte, 2006


Modell, lateinisch: das Muster
Teppich, persisch: das Ausgebreitete


Der Weg in die große Ausstellungshalle des Karl Ernst Osthaus Museums – der vorgeschriebene Ort für die raumbezogene Installation im Zusammenhang mit dem Karl Ernst Osthaus-Preis - führt im Zick-Zack-Kurs durch ein kleines Foyer, über eine breite Treppe, durch einen Gang und wieder über einige Stufen bis auf die Hallenebene. Dort trifft der Gewohnheitsblick des Museumsbesuchers zunächst auf leere, weiße Wände, lediglich durchbrochen von Öffnungen zu den umgebenden Galerie-Räumen und einem Fensterband unterhalb der Decke. Indes lenkt die ungewohnte Farbgebung eines weichen, die Schritte dämpfenden Untergrundes den Blick nach unten, auf den Boden.

Eine ausgedehnte, weinrote und sandfarbene Teppichfläche breitet sich vor den Augen aus, durchbrochen von kantigen, dunkel- und hellgrauen Strukturen und eingefaßt von einem hellen Ornamentband. Das Zentrum des Teppichbodens behauptet die sandfarbene Zone, mit einem stark zerklüfteten Rand aus stereometrischen Formelementen. Seine Mitte markiert ein dunkles, irreguläres Vieleck, dessen Form, stark verkleinert, exakt den Grundriß der Halle nachvollzieht. Die Ränder jenes inneren, sternförmigen Polygons verlaufen parallel zu den Wänden. Diese Korrespondenz verleitet zu einem näheren Vergleich zwischen dem Teppichmuster und der Hallenarchitektur. Dabei geben die variantenreichen Einzelmotive der Teppichgestaltung sich und ihren Ursprung klar zu erkennen. Nach und nach erschließen sich Details: ein Wandaufriß, eine Treppenwange, ein Scheinwerfer, ein Fensterband.

Die Sternform im Zentrum zeigt eine Ansicht der Halle aus der Vogelperspektive. Wie bei einem Bastelbogen - und ein solcher lag de facto der Ausschreibung zum Karl Ernst Osthaus-Preis zugrunde - erscheinen die Wände des Raumes nach außen geklappt. Schmale, durchbrochene Rechtecke, verbunden durch filigrane Linien, kreisen um die zentrale Sternform, wie Ringe um einen Planeten. Die feingliedrige Formenreihe dieser Rahmung geht zurück auf die Zone der Fensterbänder unterhalb der Hallendecke. An der Grenze zwischen sandfarbenem und rotem Fond schweben perspektivisch verzerrte, gelängte oder gestauchte Architekturfragmente. Die bizarren Formationen sind aus der Wandabwicklung der Halle abgeleitet, wobei dem komplexen Gefüge eine logische Konstellation zugrunde liegt: die verschachtelten Motivreihen nehmen jeweils Bezug auf die nächstliegende Wand. Außerdem grenzen, wie in der realen Architektur, immer wieder konstruktiv aufeinander bezogene Boden- und Wandstück-Formen aneinander. Lichtschienen-Motive mit Scheinwerfern oder Lüftungsgittermuster werden zu Bindegliedern zwischen kompakten Architekturelementen. Das unter der Mitte der Halle abgehängte, rasterförmige Gerüst der Beleuchtungsanlage wird auf dem Boden zu einem in sich quadrierten, hell-dunkel gemusterten Rauten-Dekor. In Richtung der Raumecken schieben sich wie Protuberanzen Vogelschau-Ansichten aus dem kreisenden Gefüge heraus, komponiert aus den achsensymmetrisch gespiegelten Wand-Boden-Ausschnitten der gegenüberliegenden Ecke. Vis-à-vis, jeweils in den Winkeln, schweben Satelliten gleich, isolierte Raumgebilde auf dem roten Fond. Ihre dreidimensionale, offene Struktur, in die man von oben hineinzublicken scheint, ist ebenfalls montiert aus den gedoppelten und gespiegelten Wand- und Bodenstücken der jeweiligen Raumecke.

In den kurzen, zur Skulpturenterrasse führenden Seitenarm der Halle, ragt eine raffinierte Formation, in der Abbildungen der oberen Galerie und deren Brüstung verarbeitet sind, flankiert von einer Ansicht des Treppenaufgangs zu den oberen Räumen. In den langen Seitenarm des Hauptraumes dringt eine lockere Folge von Architekturelementen, verklammert durch Motive von Lichtschienen, Lüftungslamellen und Fensterbändern. Verschiedene Elemente verweisen auf die Raumsituation vor der Halle: sie führen den Blick zurück in den Gang und auf die Treppenstufen mit den seitlichen Geländern, um schließlich in einem Rechteck zu enden, das wie in einem Guckkasten den Blick auf die perspektivisch zulaufende Treppe zur Halle freigibt. Mit einer sechseckigen Solitärform, kombiniert aus der gespiegelten Raumecke mit umklammernden Bodenabwicklungen, endet die Musterfolge in dem Gang. Den umsäumenden Rahmen für den gesamten Teppich bildet eine Bordüre, deren Gestaltung, sehr stark verkleinert, in fortgesetzter Reihe das Zentralmotiv der aufgeklappten Halle aus der Vogelperspektive wiederholt.

Carsten Gliese hat sich, wie es die Ausschreibungsbedingungen des Karl Ernst Osthaus-Preises formulieren, intensiv und akribisch bis ins kleinste Detail mit der Architektur der Museumshalle auseinandergesetzt. An einem Modell in verkleinertem Maßstab hat er zunächst, im Rahmen des Wettbewerbs, den Entwurf und die Realisierungsmöglichkeit seiner Grundidee erprobt. Für die Ausführung fotografierte er die Halle mit den Wandabwicklungen und technischen Einbauten vor Ort, aus allen erdenklichen Blickwinkeln und Distanzen. Der folgende Schritt im Produktionsprozeß war die Bearbeitung der digitalen Aufnahmen am Computer. Das detailreiche Foto-Puzzle wurde zu einer den Hallengrundriss ausfüllenden Bildlandschaft montiert, indem die Fragmente nach festgelegten formalen Prinzipien umgestaltet sowie an- und zueinander gefügt wurden.

Um die verwirrende Vielfalt des Teppichmusters in Augenschein zu nehmen, muß der Betrachter auf das Kunstwerk treten. Er befindet sich physisch im Bild und kann, Schritt für Schritt, auf der Bildoberfläche die fotorealistisch erfaßten Details erschließen. Die Identifikation der diversen Gebilde, die gedankliche Verknüpfung mit ihrem architektonischen Vorbild, wird dabei im steten Abgleich mit der umgebenden Architektur möglich. Dieser Wahrnehmungsprozeß erfordert Bewegung und Zeit, da das Bild mit seinem Reichtum an Motiven und Formen die komplette Grundrißfläche ausfüllt.

In der Nahsicht zeigen die dargestellten Motive eine Tendenz zur Auflösung. Die Farbfelder zerlegen sich in ein Nebeneinander von reinen, unvermischten Farbpunkten. Dieser Effekt des Divisionismus erinnert an den Neoimpressionismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Die Wirkung der pointillistischen Maltechnik basiert auf der optischen Fusion getrennt gesetzter Farbpunkte, die sich mit zunehmender Blick-Distanz in der visuellen Wahrnehmung mischen. Bei Glieses Bildteppich entspringt das Pointillismus- beziehungsweise Pixel-Phänomen der speziellen Produktionstechnik des Teppichs: ein Tintenstrahldrucker, dessen Skala 12 Farben umfaßt, bedruckt den Teppichflor, auf der Grundlage der vom Künstler erstellten Bild-Datei. Den einzelnen Farbpunkten auf dem Teppich entsprechen die Pixel der Bildschirm-Darstellung.

Sowohl die Farbmischung als auch das Erfassen der Gesamtkomposition bieten sich jedoch erst, wenn der Betrachter sich selbst aus dem Bild entfernt, wenn er die Bildebene verläßt, um von höher gelegenen Standorten einen Überblick zu gewinnen. Glieses Bildteppich ist von verschiedenen Erlebnisebenen aus erfahrbar. Dieser Standortwechsel ist die zwingende Voraussetzung für das Verständnis der Konzeption. Vor allem in der Übersicht kommen die Ausgewogenheit der Komposition in Bezug auf den irregulären Grundriß der Architektur sowie gleichzeitig das überbordende, nahezu barocke Moment in der Verarbeitung des reichhaltigen Motivschatzes zum Tragen. Und erst aus der Distanz wird deutlich, dass der Bildteppich traditionellen, klassischen Gestaltungselementen der Teppichkunst folgt: angefangen vom Medaillon im Zentrum, über den umgebenden Innenfond und den Außenfond mit den darin eingebetteten Zwickeln, bis hin zur umsäumenden Bordüre.

Auf die Tradition der Teppichkunst beruft sich Gliese gleichermaßen mit der Verwendung des Architekturmotivs als eigenständiges Sujet. Seit dem 15. Jahrhunderts fand die Nachbildung der eigentlich Teppichmuster-fremden Architektur Eingang in den Motivschatz der Gebetsteppiche im islamischen Raum. Das Mihrab, die Gebetsnische in der Moschee, wurde in mehr oder minder stilisierter Form in das rechteckige Innenfeld des Teppichs eingefügt, häufig flankiert oder untergliedert von zierlichen Säulen und ausgestattet mit einer unterhalb des Bogens hängenden Lichtampel. Ein außergewöhnlicher Gebetsteppich aus dem 16. Jh. bezieht zudem den Grundriß der K’aaba in Mekka ein, das Hauptheiligtum des Islam, auf das sich die Gläubigen während des Gebetes ausrichten. (Moslemischer Gebetsteppich, 16. Jh.; Türk ve Islam Eserleri Müzesi, Istanbul) Auf architektonische Elemente nimmt ebenso die barocke Teppichkunst Frankreichs Bezug. So spiegelt ein großer Teppich aus dem 18. Jh. den Blick in ein Deckengewölbe mit einer zeltartigen Baldachinkuppel. (Wollteppich, Savonnerie, Ende 18. Jh., 848 x 530 cm; ehem. Wien, Österreichisches Museum für angewandte Kunst) Die Raumillusion wirkt so überzeugend, dass der Fuß beim Betreten zögert.

Auch bei Glieses Teppich wird der Betrachter herausgefordert, das architektonische Vorbild gedanklich zu rekonstruieren, zumal die Teppichgestaltung auf den ersten Blick eine dreidimensional-illusionistische Wirkung verspricht. Dieses Versprechen wird jedoch, bei eingehender Betrachtung, nicht eingelöst. Die montierten Architekturfragmente erweisen sich als hybride, virtuelle Konstruktionen, die nur als Bild möglich sind. Gerade die Diskrepanz zwischen der zum Teppich-Ornament verfremdeten Architektur und der Gestaltungsvorlage, dem realen Raum, sensibilisiert den Betrachter für die Wahrnehmung der - ihm scheinbar vertrauten - Museumsarchitektur. Erstmals werden Marginalien wie Lüftungsgitter oder Lichtschienen als Ingredienzien des Raumes wahrgenommen oder auch die weißen Wandflächen, die sonst lediglich als möglichst unaufdringlich-neutrale Hintergrundfolie ausgestellter Kunstwerke fungieren. Das begehbare Bild initiiert eine Neu-Wahrnehmung des Raumes.

Carsten Gliese konfrontiert die reale Architektur mit dem aus ihr abgeleiteten Bild und liefert eine einfühlsame und präzise Interpretation der Bauformen und der musealen Einrichtung. Die unterschiedlich manipulierten, bildlichen Raumzitate verweisen immer wieder auf ihre Herkunft. Doch obwohl dem Arrangement der Architekturfragmente an vielen Stellen eine folgerichtige Ordnung zugrunde liegt - Wand berührt Nachbarwand, grenzt an Raumecke, umschließt Bodenfläche etc. - ließe sich ohne die Kenntnis der realen räumlichen Gegebenheiten die Ausstellungshalle nicht rekonstruieren. Glieses Bildteppich ist eine Repräsentation der architektonischen Struktur der Museumshalle, ohne ihr Abbild zu sein.

Dabei könnte Glieses lückenlose, sachlich-dokumentarische Bestandsaufnahme der Museumsarchitektur mittels der Fotografie durchaus auch ein ganz anderes Ergebnis erzielen. Doch ihm dient die Fotografie als Instrument zur visuellen analytischen Durchdringung des Raumes. Sowohl die Gestalt als auch die Funktion architektonischer Merkmale werden focussiert. Auf dieser Basis lotet Gliese die ästhetischen Möglichkeiten des Raumes aus. In der darauf folgenden Bild-Synthese bleibt die fotografische Dimension mal mehr, mal weniger explizit sicht- und erkennbar.

Seit jeher fotografiert Carsten Gliese Räume, um diese zu verändern. Die Fotografie ist sowohl Analyse-Medium als auch konstituierender Bestandteil seiner architekturbezogenen Projekte. Gliese bezeichnet diese Arbeiten als ‚Modelle‘. Modell verstanden als Option, als alternativer Warnehmungs- und Denkansatz, als Aufforderung zum Perspektivwechsel in vielfältiger Hinsicht, bis hin zum freien ästhetischen Spiel.

Mit vergleichbarer Intention fand 1999 die fotografische Bestandsaufnahme des Foyers der Südwestfälischen Industrie- und Handelskammer in Hagen, in Gestalt eines filigranen Gerüstes, Eingang in die Arbeit ‘Modell Hagen’ (s/w Digitaldruck, kaschiert auf technischer Pappe). Abgehängt unter dem gläsernen Giebel, lenkte das völlig losgelöste und unter dem Himmel schwebende Modell den Betrachterblick empor. – In der Sparkassenakademie Münster wird in dem langen Verbindungsgang zwischen zwei Gebäudekomplexen, zu Füßen des Betrachters, auf einem Teppich, die fotografische Erfassung des angrenzenden Vorraums abgewickelt. Der Bildteppich ‘Modell Münster’ (2002, Chromojet-Druck auf Teppichboden, 260 x 2350 cm) ersetzt in dem Gang einen Teppichboden, dessen Punkt-Musterung nun als Ornamentfeld die einzelnen Bildabschnitte segmentiert und hinterlegt.

Auch in der Genese von Carsten Glieses Bildteppich im Karl Ernst Osthaus Museum Hagen mit dem Titel ‘Modell Osthaus’, emanzipieren sich die Details im Prozeß ihrer Transformierung zunehmend von der Vorlage, bis sie schließlich im endgültigen Entwurf ihre eigenen ästhetischen Gesetze formulieren. Die Strukturen des realen Raumes verwandeln sich in eine künstlerische Bodenarbeit, in Form eines Teppichs. Der dreidimensionale Hallenraum wird in ein zweidimensionales Bild überführt, seine Architektur wird zum Muster. Das Muster, lateinisch ‚Modell‘, wird aus den Gegebenheiten der Halle abgeleitet und auf dem Teppich wiederum in die Halle eingebracht.

Dass Gliese sein Modell als Teppich umsetzt ist ungewöhnlich, da in der bildenden Kunst der Teppich als künstlerisches Medium kaum eine Rolle spielt. Zwar gab es im 20. Jahrhundert zur Zeit des Jugendstils und am Bauhaus im Bereich der Textilkunst Ansätze zu einer Verschmelzung von angewandter und ‘hoher’ Kunst. Doch nur wenige Künstlerinnen und Künstler, wie beispielsweise Rosemarie Trockel, arbeiten heute mit textilem Material. Glieses Teppiche in Münster und Hagen - keine Wandteppiche, sondern als begehbarer Bodenbelag konzipiert und in der Sparkassenakademie Münster sogar als zweckdienlicher Teppichboden genutzt -, behaupten eine singuläre Position. Gliese hebt bewußt die Trennung zwischen Kunsthandwerk und ‘hoher’ Kunst auf. Er will “Kunst anwenden”.

Gliese folgt damit einer Grundidee des Hagener Museumsgründers Karl Ernst Osthaus (1874-1921), auf den sich der Künstler im Titel seiner Arbeit programmatisch bezieht. Osthaus, der “Kunst und Leben miteinander versöhnen”, Nutzen und Schönheit in Einklang zu bringen suchte, zielte mit der Gründung seines ‘Deutschen Museums für Kunst in Handel und Gewerbe’ (1909) “nach Zeiten tiefster Entfremdung (auf) eine Wiedervereinigung von Kunst und Gewerbe”. Er legte ein Musterlager vorbildlicher Erzeugnisse an, die von den bedeutendsten Künstlern seiner Zeit gestaltet wurden, und zu dessen Beständen auch Teppiche und Bodenbeläge zählten. Er ließ nicht nur sein eigenes Wohnhaus, den ‘Hohenhof’ in Hagen, mit Teppichen Henry van de Veldes ausstatten, sondern veranstaltete ebenso Wechselausstellungen im Hagener Museum Folkwang, in denen sowohl orientalische Teppiche (1909) als auch moderne französische Gobelins (1913) zu sehen waren. An prominenter Stelle, in der Eingangshalle des Museums, präsentierte Osthaus auf flachen Podesten persische Teppiche.

Somit knüpft Carsten Gliese gewissermaßen an die Folkwang-Tradition an, anschaulich auch dadurch, dass nicht nur die Architektur der heutigen KEOM-Halle von 1974 Eingang in das Muster seines Teppichs findet. Glieses ‘Modell Osthaus’ rekurriert ebenso auf den von Henry van de Velde gestalteten Folkwang-Altbau (1902), indem es dessen Grundfarben aufgreift. Das Rostrot der belgischen Fliesen und die Sandfarbe der Wände bilden den Außen- und Innenfond des Bildteppichs, das Graugrün des berühmten Wellenmotivs, das entlang der Treppe aufsteigt, umsäumt das Bordürenmuster.

Das aus den örtlichen Gegebenheiten des KEOM-Alt- und Neubaus abgeleitete, akribisch durchkalkulierte und logisch-konstruierte Konzept der Bildgenese, findet seinen Niederschlag als großflächiges Ornament auf einer horizontal ausgebreiteten Bodenarbeit aus textilem Material. Glieses Teppich-Modell läßt sich unter diesem Aspekt als polychrome Bodenskulptur definieren. Denn eigentlich thematisiert er die genuine Aufgabenstellung der Skulptur: das Volumen - ohne allerdings selbst Volumen zu sein. Das Phänomen Volumen tritt hingegen auf als Leitthema: der Raum wird auf der zweidimensionalen Teppichfläche neu komponiert und eine volumenhaltige Raumvorstellung evoziert. Carsten Glieses ‘Modell Osthaus’ ist somit zugleich auch Skulptur im Sinne einer “Skulptur als Platz”, wie sie Carl Andre definiert hat.

Eine latent mitschwingende, hintergründige Ironie bricht die rationale Dimension von Glieses Modellbau. Die mutwillige ‚Zersprengung‘ des Raumes und seine irritierend-dysfunktional erscheinende Neuordnung bergen ein spielerisches ästhetisches Moment. Der Künstler formuliert ein augenzwinkerndes Aperçu zur vordergründigen Funktionalität und Rationalität der modernen Architektur.

Carsten Gliese verwandelt mit seinem Modellbauverfahren den Museumsraum im Karl Ernst Osthaus Museum somit auf doppelte Weise: erstens, indem er ihn neu komponiert und zweitens, indem er anschließend die Neukomposition wiederum in diesen Museumsraum einbringt. Da das ‘Modell Osthaus’ - ob als Bodenskulptur oder als Bildteppich definiert - so eindeutig Bezug nimmt auf den Museumsraum, kommt die dem Zweckdienlichen enthobene Autonomie des Kunstwerks um so deutlicher zum Vorschein. Die Museumshalle dient dem Künstler als Rohmaterial. Durch seinen inszenatorischen Eingriff beraubt Gliese die Architektur ihrer ursprünglichen Funktion. Der Ausstellungsraum wandelt sich zu einem zweckfreien Kunstwerk. Der Boden des realen Ausstellungsraumes wird quasi zum ‘Sockel’ des künstlerischen Werkes, zum Podest für den Bildteppich. Folglich wird die Museumshalle selbst in ein Objekt ästhetischer Betrachtung und Erkenntnis überführt. Paradoxer Weise tritt jedoch gleichzeitig die Halle wieder in ihre ursprüngliche Funktion ein: nämlich ein Ausstellungsraum zu sein. Dieser bietet jedoch nicht nur Raum für die Reflexion des Kunstwerkes, sondern wird auch durch das in ihm ausgestellte Kunstwerk reflektiert. Glieses ‘Modell Osthaus’ ist ein anschauliches Modell für Wahrnehmungsräume und Raumwahrnehmung, ein bildhaft ausgebreitetes Muster für ästhetische Wahrnehmung im musealen Raum.

Postscriptum
“Die Wirkung des Raumes ist auf die Weise außerordentlich schön geworden und hindert in keiner Weise die Wirkung der ausgestellten Gegenstände.”
Karl Ernst Osthaus, Zur Einrichtung der Museen, 1903