Raumreflexionen

Begleittext aus dem Katalog "Modell Osthaus" von René Hirner, 2006
Die künstlerische Reflexion und Verwandlung vorhandener architektonischer Räume und Gebäude ist das Thema, mit dem sich Carsten Gliese seit mehr als zehn Jahren beschäftigt. So hat er in dieser Zeit mehr als zwei Dutzend Installationen geschaffen, die jeweils den architektonischen Ort ihrer Präsentation selbst zum Gegenstand haben. Durch diese Verschränkung realer Räume mit ihrer künstlerischen Repräsentation hat Carsten Gliese räumliche Inszenierungen von höchster Selbstreflexivität geschaffen, die einen wesentlichen Anspruch moderner Kunst – nämlich die Reflexion der künstlerischen Mittel im Kunstwerk selbst sichtbar zu machen – geradezu vorbildlich einlösen. Erinnert sei hier an Kasimir Malewitsch’ epochemachendes Bild „Schwarzes Quadrat auf schwarzem Grund“ von 1915, das gerade dadurch, dass es das Verhältnis von Bildfläche und Bildfigur grundsätzlich in Frage stellte, eben dieses Verhältnis als Grundlage aller Malerei sichtbar und reflektierbar machte.

Nun würde Carsten Gliese selbstverständlich nicht für sich in Anspruch nehmen,
die Verschränkung realer Architekturräume mit ihrer künstlerischen Repräsentation als Erster erfunden zu haben. Diese Entdeckung war vielmehr einer älteren Generation vorbehalten. In der Kunstwissenschaft verbindet man sie vor allem mit dem Namen von Gordon Matta-Clark (1943–1978), der ähnliche künstlerische Eingriffe schon in den 1970er Jahren durchgeführt und damit nachfolgende Künstlergenerationen beeinflusst hat. Deshalb wird Carsten Gliese häufig zusammen mit jüngeren Künstlerinnen und Künstlern wie Andrea Zittel, Tobias Rehberger und Joep van Lieshout genannt, deren klare konzeptuelle Strategien sich ebenfalls mit einem genuinen Interesse an unserer heutigen Alltagsarchitektur verschränken. So baut Andrea Zittel Prototypen serieller Wohneinheiten, die den Gedanken des Reihenhauses als normierter und optimierter Lebensraum durch konsequente Reduktion zuspitzen und reflektieren. Joep van Lieshout überträgt dagegen das modulare Prinzip der Minimal Art auf seine Mobilhomes, die zu mobilen und stets erweiterbaren Wohneinheiten werden. Und Tobias Rehberger interessiert sich vor allem für das Design der 1970er Jahre, das ihn zu phantastischen und gleichwohl präzise inszenierten Wohnlandschaften inspiriert.

Von ihnen unterscheidet sich Carsten Gliese vor allem durch die strenge Ortsgebundenheit seiner Inszenierungen und deren hohe Reflexivität. Letztere gründet hauptsächlich in seinem spezifischen Umgang mit der Fotografie. Denn Gliese nutzt das Medium nicht nur zur dokumentarischen Erfassung der Räume, auf deren Basis er dann seine installativen Eingriffe entwickelt und anschließend auch dokumentiert. Vielmehr nutzt er die fotografischen Bilder auch, um diese Räume selbst im Raum als Bild – also zweidimensional – zu repräsentieren.

Beispielhaft für diesen Ansatz ist eine frühe Installation, die der Künstler 1993 noch als Student an der Kunstakademie Münster realisiert hat. In einem schlichten Ausstellungsraum macht er von einem Punkt in Augenhöhe eine fünfteilige Aufnahme, die in einem 180 Grad Schwenk vom Boden an einer Wand bis zur Decke der nächsten Wand reicht. Die jeweiligen Bildausschnitte montiert er anschließend in verkleinerter Form an die entsprechenden Stellen im Raum. Allerdings nicht direkt auf die Wände selbst, sondern auf weit von den Wänden abstehende Bildträger, deren pyramidale Form die Sehpyramide der jeweiligen Bildausschnitte genau wiedergeben. Durch diese Arbeit bildet er also den fotografischen Blick als plastische Form im Raum nach und verändert dadurch zugleich die plastische Form des Raumes selbst.
Die sich aus diesem Prinzip ergebenden Möglichkeiten hat er seitdem konsequent weiterverfolgt. So macht er für den Kunstverein Gelsenkirchen 1997 aus Pappkarton und Digitaldrucken eine „Zwischenebene“, welche die Situation im Treppenhaus des Gebäudes reflektiert. Zwischen den drei Stockwerken des Aufgangsbereichs platziert, wirkt die tischartige Skulptur vom Erdgeschoss aus betrachtet, wie eine Art Tier mit vier Beinen und einem merkwürdig gezackten, flachen Körper, der entfernt an ein Krokodil denken lässt. Vom Zwischengeschoss aus gesehen, erinnert sie tatsächlich an einen merkwürdig geformten Tisch aus Architekturelementen, während von oben betrachtet, sich die merkwürdige Form schließlich klärt. Denn von oben sieht man nun, dass Carsten Gliese die Architekturform des Treppenaufgangs von oben fotografiert, vergrößert und als Grundriss für die „Tischplatte“ verwendet hat. Elemente des realen Raums, also des Treppenhauses, erscheinen sowohl als architektonisch-skulpturale Form als auch als fotografisches Abbild. Im Unterschied zur Arbeit von 1993 hat das fotografische Abbild jedoch nicht mehr die klassische Rechteckform eines Bildes, sondern wird auf die Umrissformen des abgebildeten Gegenstandes, also des Treppenaufgangs, zurechtgeschnitten. Außerdem ist es auch nicht mehr als reine Bildfläche aufgefasst, sondern wird zu einer Art Relief, das die plastischen Elemente des Treppenaufgangs auch plastisch wiedergibt.

In der Gelsenkirchener Arbeit hat Carsten Gliese damit zwei neue Elemente eingeführt, die er in seiner Installation für den Heidelberger Kunstverein im Jahr 2000 in reiner Form weiter entwickelt. So benutzt er auch hier Architekturelemente aus dem realen Raum als „Motiv“, die er durch eine Drehung in den Raum „projiziert“. In diesem Falle ist es die Stützenform für die Empore und des darunter befindlichen Wandbereichs in der Ausstellungshalle, die er in Originalgröße nachbaut und ähnlich einem zerlegbaren Stellwandsystem im Raum neu kombiniert. Durch die Bemalung in kühlem Taubengrau unterscheidet sich dieses Element genügend von der realen Architektur, um nicht mit dieser verwechselt zu werden. Durch die Zerlegung, Verdrehung und das Zusammenschieben dieser Elemente entsteht darüber hinaus eine rhythmische Raumfolge, die – beim Durchschreiten des Ausstellungsraums – immer neue und faszinierende Durch- und Ausblicke gewährt.

An dieser Installation wird die Arbeitsweise und die Wirkung deutlich, welche die Gliese’schen Rauminterventionen entfalten. So sucht sich der Künstler zunächst stets bestimmte Architekturelemente, die ihm charakteristisch erscheinen, um sie dann als fotografische Bilder oder plastische Formen zu reproduzieren, die er – in unterschiedlicher Weise gespiegelt – in den vorhandenen architektonischen Kontext integriert. Was dabei herauskommt, ist eine Verfremdung des Raumes durch dessen eigene architektonische Elemente, die eben dadurch den Betrachter erst für dessen Besonderheiten sensibilisieren. Im Unterschied zu den Arbeiten von 1993 und 1997 ist die Abbildung der gewählten Architekturelemente in der Heidelberger Arbeit aber nicht mehr fotografischer, also bildlicher Natur, sondern plastischer Art.
Doch damit wendet sich Carsten Gliese nun keineswegs von der Fotografie als Medium der Abbildung und Reflexion seiner Rauminterventionen ab. Im Treppenhaus des Stadtmuseums Hattingen bringt er 2001 sowohl plastische als auch fotografische Elemente zum Einsatz. So besteht diese Arbeit aus Gipsreliefs, mit denen er Teile der Wände verkleidet, und einer riesigen Fotoleinwand, welche die gesamte Wand des Flures bedeckt. Dieses Mal bildet die Fotografie jedoch das beherrschende Architekturelement dieser Raumsituation, den Z-förmigen Treppenaufgang, nicht einfach ab, sondern zeigt es in vier verschiedenen Perspektiven und Zuständen. Dafür hat Carsten Gliese den Treppenaufgang eigens als Pappmodell nachgebaut und dessen Entstehung fotografisch dokumentiert. Für die riesige Fotowand hat er diese Fotos schließlich so collagiert, dass ein illusionistisches Bild entsteht, welches das Z-förmige Architekturelement in unterschiedlichen Perspektiven und Zuständen als eine Art surrealistische Raumskulptur zeigt. Damit nutzt er die Fotografie erstmals nicht mehr primär zur Abbildung bestimmter Architekturelemente, sondern als Medium für die Erfindung neuer, fiktiver Bildräume. Dabei handelt es sich zwar um Bildräume in der strengen Formensprache der 1960er und -70er Jahre Architektur, aber letztlich sind es Architekturphantasien, die an die illusionistische Raummalerei des Barock denken lassen.

Die illusionistische Erzeugung eines architektonischen Raums hat der Künstler in
der Reihe seiner „Zwischenbebauungen“ weiter geführt, in denen er ebenfalls plastische und bildliche Elemente mit einander kombiniert. Besonders zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die „Zwischenbebauung III“, die er 2002 im Treppenhaus eines Atelierhauses in Münster realisieren konnte. Die durchgängig verglaste Frontseite dieses Treppenhauses ermöglicht es ihm, über fünf Etagen hinweg ein durchgängiges Hinterglasbild aus Papier zu kleben, das illusionistisch eine Treppensituation wiedergibt. Bei genauerer Betrachtung gibt dieses Bild zu erkennen, dass seine Architekturelemente aus der real existierenden Architektur des Treppenhauses abgeleitet sind. Das riesige Hinterglasbild stellt somit eine illusionistische Verfremdung der realen Architektur dar und löst damit beim Betrachter dieselben Prozesse der Sensibilisierung und Reflexion aus, wie sie bei allen Arbeiten des Künstlers zu konstatieren sind.

Keinen Innenraum und auch keine seiner bevorzugten Treppenraumsituationen fand Carsten Gliese 2004 beim Bildhauersymposion Heidenheim vor. Vielmehr arbeitet
er hier erstmals auf einer Außenfassade, die – im Unterschied zu Münster – über drei Schauseiten verfügt. Auf die bekannte Weise entwickelt er aus den real vorhandenen Architekturelementen ein illusionistisches Architekturbild, das sich jetzt über zwei Seiten des Gebäudes zieht. Die Schwierigkeit, die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Gebäudeseiten nicht direkt aufeinander treffen zu lassen, löst er dabei raffiniert, in dem ihre gemeinsame Eckelinie zum Fluchtpunkt der beiden gegenläufigen Bildperspektiven macht. Neu ist auch das Material, mit dem er das Bild auf den Außenwänden anbringt: Es handelt sich um frei vor die Wände geschraubte Lochbleche, deren Bohrungen das fotografische Raster seiner Bildvorlage wiedergeben. Da die Bleche dunkel sind und die Bohrungen den Blick auf die helle Betonfassade freigeben, entstehen abhängig vom Standpunkt des Betrachters und von den wechselnden Lichtverhältnissen unterschiedlich kontrastierende und unterschiedlich scharfe Raumillusionen. Damit gelingt Carsten Gliese „ein fast barocker Illusionismus vereint mit einer virtuos eingesetzten Kenntnis moderner architektonischer Formensprache“ (Sabine Maria Schmidt), dem – auf Grund der wechselnden Lichtverhältnisse – zugleich etwas Relativistisches und Transitorisches anhaftet.

Die Abhängigkeit der Bild- und Raumwahrnehmung vom Licht thematisiert der Künstler in einer Reihe von jüngst entstandenen Fotoarbeiten. Es sind autonome Raumaufnahmen, die er durch eine bewusste Lichtregie verfremdet. So zeigt beispielsweise das Foto „Tür IV“ den Innenraum eines Ateliers, in das ein WC-Block eingebaut wurde. Dessen weit geöffnete Tür wird durch ein rechteckiges Lichtfeld so beleuchtet, dass ihr Schatten einen Raum erzeugt, dessen Proportionen mit denen des WC-Blocks korrespondieren. Da der Künstler mit seinem Lichtfeld nur die Tür und einen Teil des Raumes ausleuchtet – was er u. a. durch die Mehrfachbelichtung eines Negativs bewerkstelligt –, entsteht ein Raumbild, das sich aus fast immateriell wirkenden weißen Flächen und unterschiedlich stark belichteten Raumteilen zusammensetzt. Die Wirkung dieser Fotografien ist so einfach wie bestechend. Denn sie machen das Licht als Voraussetzung jeder Raumwahrnehmung sichtbar und zeigen dessen unterschiedliche Qualitäten: Vom reinen, blendenden Weiß, das nichts erkennen lässt und letztlich nichts anderes als die reine weiße Fläche des Fotopapiers zeigt; über strahlendes Weiß, das aber noch Konturen preis gibt; bis zu starkem Licht, das den Raum, die Wände und Dinge mitsamt ihren Oberflächentexturen sichtbar macht. Vom leichten Schatten, der keinen Hinweis auf den Standort der ihn erzeugenden Lichtquelle gibt, bis zu fast ganz dunklen Stellen, die Räumlichkeit und Gegenstände kaum mehr erkennen lassen. Die fotografische Aufnahme wird somit als ein Bild wahrnehmbar, das einerseits aus der zweidimensionale Fläche des weißen Fotopapiers besteht und andererseits in allen Abstufungen zwischen Weiß und Schwarz die illusionistische Abbildung des Raumes ermöglicht.

Was eingangs als ein Hauptcharakteristikum von Carsten Glieses Kunst konstatiert wurde, ist also auch in seinen jüngsten Fotoarbeiten zu beobachten. Es ist die konzentrierte künstlerische Auseinandersetzung mit konkreten Räumen, die durch die konsequente Verschränkung von deren Realität mit ihrer künstlerischen Repräsentation Werke hervorbringt, die sowohl ihre Gegenstände (dies sind: die architektonischen Räume) als auch ihre künstlerischen Darstellungsmittel (dies sind: Licht und Fotografie) wechselseitig erhellen. Selbst im Medium dieser autonomen Fotografien, die nicht mehr eines konkreten Raumes zu ihrer Präsentation bedürfen, kann der Künstler also die Selbstreflexivität seines konzeptuellen Ansatzes einlösen – und seinen Ansatz fruchtbar weiterentwickeln.