Ins Verhältnis-Setzen: Domestizieren

Eröffnungsrede von Volker Pantenburg im Kunstverein Ahlen, 2004
Die Ausstellung mit Arbeiten von Carsten Gliese und Matthias Müller, die heute hier im Kunstverein Ahlen eröffnet wird, trägt zwei Titel: Sie ist einerseits Bestandteil einer vierteiligen Reihe - "Ins-Verhältnis-Setzen" - und andererseits mit dem Begriff "Domestizieren" überschrieben. Noch bevor man die einzelnen Arbeiten in den Blick nimmt, ist man also aufgerufen, das Motto der Reihe ernst zu nehmen: Zwei Dinge in Beziehung miteinander zu bringen, Relationen herzustellen. Zwischen den beiden Künstlern, zwischen den Arbeiten und uns als Zuschauern, vor allem aber zwischen Bildern und Räumen - häuslichen und öffentlichen, Räumen der Intimität und solchen der Exposition. Damit sind Fragen des Transfers und der Übersetzung angesprochen, die für beide Künstler zentral sind: Welche Bild- und Gedächtnisräume entwirft der Film? Welche Raumbilder entwickelt die Fotografie? Und welche Rolle spielen wir als Beobachter dabei?

"Domestizieren" und "Ins-Verhältnis-Setzen": Aus den Worten ist zwar eine Aufforderung herauszuhören, aber sie sind zunächst einmal ganz neutral formulierte Verben. Man könnte sich beide Begriffe als Einträge in einem Wörterbuch vorstellen und darüber spekulieren, welche Erklärung sich dort wohl fände. Zur Erläuterung von "Ins-Verhältnis-Setzen" würde man in einem solchen fiktiven Wörterbuch menschlicher Praktiken unter Umständen auf den Begriff "Montage" stoßen. "Montage" ist - neben der verwandten Collage - nicht nur eine der zentralen künstlerischen Techniken der Moderne, die bereits in den Avantgarde Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts den Blick neu justierte und vorhandenes Material als einen schier unerschöpflichen Rohstoff für die künstlerische Arbeit entdeckte. Der Begriff verbindet vor allem die beiden Medien Film und Architektur wie kein anderer und ist deshalb ein besonders naheliegendes Scharnier zwischen den Arbeiten Müllers und Glieses. Einerseits benennt "Montage" die Praxis, Filmstücke hintereinander zu setzen und so eine Reihe von Einstellungen zu einer filmischen Erzählung zu verbinden. Andererseits - und aus diesem Bereich stammt das Wort ursprünglich, - meint es das Konstruieren von Objekten und Bauten, es beschreibt die Tätigkeit des Ingenieurs. In beiden Fällen gerät der Akt des Zusammenfügens in den Blick, und der fertige Film ist ebenso wie das fertige Objekt vor allem als Ergebnis dieser Handlung zu begreifen, als etwas Gemachtes und Konstruiertes.

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Es gibt viele Arten, einen Film, eine Maschine, einen Schrank oder eine Schreibtisch zu montieren. Man kann gemäß der Gebrauchsanweisung vorgehen, so, dass die Dinge nach landläufiger Vorstellung "funktionieren" - so, dass der Film eine flüssige Geschichte erzählt, dass man am Tisch bequem sitzen kann oder seine Kleidung morgens mit einer routinierten Handbewegung aus dem Schrank holt. Interessanter, wenn auch aufwändiger und nervenraubender, ist eine Montage gegen die Gebrauchsanweisung. Eine solche Operation hat den Vorteil, dass sie die gemeinhin unhinterfragten Regeln - Regeln der Wahrnehmung, der Filmerzählung, der Konvention, wenn man so will: "Hausordnungen" des Blicks - überhaupt erst sichtbar macht. Dieser Wunsch, die ungeschriebenen Gesetze im Akt ihrer Überschreitung sichtbar zu machen, verdankt sich einer experimentellen Neugier und verbindet die Arbeit des Wissenschaftlers mit der des Künstlers.

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Ich will das zunächst anhand der Objekte von Carsten Gliese kurz beschreiben. Seit mehr als zehn Jahren umkreisen seine Arbeiten - immer auf spezifische Orte bezogen - das Problem der räumlichen Wahrnehmung und seiner zweidimensionalen Repräsentation. Fotografien bilden den Ausgangspunkt seiner Raumobjekte und provozieren erste Fragen: Was geht bei der Abbildung eines dreidimensionalen Raums verloren? Wie lassen sich diese Verluste gewinnbringend in den Raum zurückspiegeln? Als die Fotografie vor mehr als einhundertfünfzig Jahren erfunden wurde, übersetzte sie die seit der Renaissance bekannten Regeln dafür, wie eine räumliche Darstellung auf eine zweidimensionale Fläche zu übertragen sei, in eine technische Apparatur, sie verwandelte ein Bildprogramm in einen Apparat, machte aus Software Hardware. Dass diese Apparatur nicht natürlich ist, sondern auf einer Reihe von konventionalisierten Regeln beruht, wird leicht vergessen. Als Picasso einmal von einem Kritiker gefragt wurde, warum er die Dinge nicht so malen könne, wie sie wirklich sind, so, wie zum Beispiel hier seine Frau auf diesem Foto aussehe, antwortete Picasso lakonisch: "Sie ist aber sehr klein. Und auch ziemlich flach." Soviel zum naiven Realismus, den das Medium herauszufordern scheint.

Was die Abbildung von Räumen in der Fotografie angeht, so basiert sie auf einem geläufigen Prinzip: Von einem definierten Beobachterstandpunkt aus täuscht eine nach festgelegten Projektionsregeln gezeichnete (oder fotografierte) Fläche einen Tiefeneindruck vor, der vom Betrachter automatisch und unbewusst verstanden wird. Wir ergänzen also die Fläche - aufgrund der Domestiziertheit unserer Augen - automatisch wieder zu einem dreidimensionalen Raum. Strenggenommen betrachten wir das Foto dabei nicht im materiellen Sinne als Foto, sondern als eine Art durchsichtiges Fenster zur Welt.

Carsten Gliese dagegen operiert - hier wie in anderen Arbeiten - mit einer, wie er es nennt: "kontrollierten Blindheit". Er nimmt die Fotografie als das, was sie ist: als eine Fläche, die aus Abstufungen von Farbe, Einzelflächen, Schatten und Formen zusammengesetzt ist, die zunächst einmal gleichwertig und damit variabel montierbar sind. Das Foto ist für ihn eine Art Schnittmuster, und was den vermeintlichen Hintergrund abgibt, hat die gleiche Relevanz wie die "eigentlichen" Motive. Beim Prozess, aus diesem Schnittmuster einzelne Formen selektiv herauszutrennen und auf Pappe zu übertragen, entsteht ein Puzzle von Einzelteilen, die nun nach neuen Kriterien rekombiniert, miteinander ins Verhältnis gesetzt und im Raum verteilt werden können. Die so entstehenden räumlichen Objekte sind als "montiert" zu verstehen, weil sie eine Verschränkung zweier Orte darstellen, Orte, die als eine merkwürdig verzerrte und verfremdete Spiegelung des Ausgangsraums verstanden werden kann. Genauer müsste man sagen: als die Verschränkung mehrerer Blicke und Perspektiven. Ein solches Projekt knüpft an konzeptuelle und minimalistische Strömungen der Sechziger Jahre an, die sich vom Autor-Subjekt zu verabschieden suchten, indem sie mathematische Kalkulation und im Vorhinein festgelegte Regeln an die Stelle des genialen Künstler-Subjekts setzten. Auch die Verwendung von industriell gefertigter Pappe lässt an jemanden wie Donald Judd denken, der für seine "Specific Objects" auf seriell produzierte Bleche und Materialien zurückgriff. Andererseits hält sich Gliese keineswegs aus dem Prozess heraus, sondern wirkt von der Fotografie über die Auswahl von Flächen bis hin zum Bau der Objekte als Entscheidungsträger mit. Die Objekte sind also - zugespitzt formuliert - auch als autobiographische Dokumente eines Blicks zu lesen, mit dem wir unseren Blick in der Ausstellung abgleichen können.

Der Begriff der Domestizierung kommt dabei, neben der Neubewertung unseres konventionalisierten Blicks auf Fotografien, noch auf einer naheliegenderen Ebene ins Spiel. Denn für diese Ausstellung hat Carsten Gliese Gegenstände aus seiner eigenen Wohnung in Objekte "übersetzt". Geht er in seinen bisherigen Arbeiten meist von dem Ausstellungsraum selbst aus, der, in Fotografien übertragen, als Basis für die weitere Erstellung von Modellen dient, sind es nun Möbel, die er zuhause fotografiert hat: "Stuhl", "Tisch", "Tür", "Wandschrank". Die jeweiligen Ausgangsmodelle sind in den Objekten jedoch nur noch schwer zu erkennen. Durch die zweifache Übersetzung haben sie Deformationen erlitten und die Patina von Biographie und Erinnerung abgelegt. Louis Sullivans bekanntes Credo moderner Architektur "Form follows function" ist hier insofern ironisch umformuliert, dass es in Glieses Arbeiten höchstens noch zeitlich zu verstehen ist: Funktion verabschiedet sich zugunsten von Form.