Standortwechsel

Begleittext aus dem Katalog "Parallele Architektur von Milo Köpp, 2002
Bei einer Installation wie „Modell Heidelberg“ richtete sich Carsten Glieses Interesse noch darauf, in die Architektur des Raumes eine künstlerische Gestaltung zu implantieren, deren Ausrichtung und Plazierung aus den Gegebenheiten des Ausstellungsraumes abgeleitet ist. Ihre Konzeption basiert auf der Idee einer einheitlich geschlossenen Form der Bearbeitung eines eindeutig begrenzten Bereiches im Heidelberger Kunstverein. Die fragmentarische Anmutung der Installation findet ihren Grund eher in der sich scheinbar verselbständigenden Anordnung der Körper, die sie zu Architektur zitierenden Raumplastiken wandelt, als in der Vorstellung, im Bruchstück sei der Architektur etwas hinzugefügt, das als Zeichen einer möglichen Veränderung dem Betrachter Spielraum für ein gedankliches Fortsetzen liesse. Eine Annäherung an „Modell Heidelberg“ erfolgt im Nachvollziehen der zugrundeliegenden Konstruktionsregel. In ihrem Erkennen und Verstehen findet der Betrachter den Schlüssel zum Einstieg in eine Interpretation des Werkes.

Mit dem „Modell Hattingen“ (2001) erschliesst sich Carsten Gliese künstlerisches Neuland. Im Treppenhaus im 2. Obergeschoss des Stadtmuseums Hattingen hat er eine zweiteilige Arbeit aufgebaut, die aus einer im Computer bearbeiteten Fotomontage und einer Verkleidung der Wände mit Gipsreliefs besteht. Eine grossformatige Fotoleinwand bedeckt fast vollständig die Aussenwand des Flures. Sie zeigt die digitale Montage von vier monumental vergrösserten Farb-Fotografien eines Graupappemodells, das eine architektonische Besonderheit des Treppenhauses stilisiert darstellt. Wie ein grosses „Z“ zieht sich die Brüstung zwischen Flur und Treppenaufgang gleichermassen begrenzend wie verbindend durch die Etagen des Gebäudes. Der Künstler hat diesen Brüstungsverlaufes mit dem Fussboden des zweiten Obergeschosses als eingehängte Ebene bis hinunter in die 1. Etage als Körper freistehend nachgebaut. Im Bild sind drei unterschiedliche Modellzustände aus vier Perspektiven und mit unterschiedlicher Ausleuchtung einander zugeordnet.

Auch wenn es ungewöhnlich sein mag, ist es richtig, eine Bildbeschreibung von rechts nach links zu versuchen, denn das entspricht dem Erleben des Betrachters, der, wenn er die obere Etage erreicht hat, diese Bildseite zuerst sieht und dann über den Flur nach links daran entlang geht.
Die Perspektive des rechten Einzelmotivs ist fast frontal auf die Schmalseite des „Z“ gerichtet und lenkt den Blick nahe der Mittelachse des Flures in das Modell, rechts und hinten gefasst von einer Wand, die in Brüstungshöhe abgeschnitten ist. In der nächsten Einstellung präsentiert sich der Brüstungskörper nach links gedreht, und wird ohne seitliche Begrenzung ausschliesslich durch die Rückwand gestützt. Die beiden bilden mit den Plattformen der Bodenflächen eine umlaufende Galerie, die links zu den im Modell angesetzten Stufen führt. Hier ist das „Z“ aus der Perspektive des Treppenaufganges stark vergrössert nur im Anschnitt abgebildet. Doch besteht auch diese Darstellung aus der Verbindung zweier Perspektiven, passgenau aneinandergefügt in der Brüstung, aber augenfällig in dem Knick der nach vorn aus dem Bild laufenden Stufen, des Lichteinfalls und der Schärfenebene. Keiner der fotografierten Modellzustände ist eine wahrheitsgetreuere Umsetzung der vorhandenen Architektur. Sie sind nach dem Modellgedanken vollständig in Bezug auf das, was sie zeigen wollen.

Die Fotomontage kombiniert die Gebäudeskizzen zu einer weitgespannte Komposition, in der das in der Museumsarchitektur flankierende Element der Brüstung zum zeichenhaften Protagonisten wird. Die Verbindung verschiedener Perspektiven mit ihrer harten Ausleuchtung, die scharf gezeichneten Pappkanten, an denen sich der wiederholte Schnitt des Cutters mit der Intensität seines Druckes sichtbar eingeschrieben hat, die Wände und der Boden, die sich ohne echtes Volumen nur in der Materialstärke der Pappe zeigen, die vormals verleimten Kanten, deren eigentlich winzige Abrissflusen in grotesker Grösse auf einen kraftvoll ruinösen Zugriff deuten, das manipulierte Schattenspiel, in dem die Motive auf einem unbestimmten Grund zu einer Einheit verschmelzen - all das erzeugt den Eindruck eines surrealen Kulissenbaus in der Welt der Bilder, keinesfalls den eines umsetzbaren Baukörpers.

Neben der Präsentation des Bildes hat Carsten Gliese in die Architektur auch handwerklich eingegriffen. Die Fotoleinwand schliesst rechts bündig mit einer aufgespachtelten Gipsfläche, die, vollständig die Wand bedeckend, noch mit einem schmalen Streifen um die Ecke geführt ist. Ebenso ist die dem Bild zugewandte Partie der Brüstung mit der Oberfläche der schwarzen Granitabdeckung verkleidet und ihre Stirnseite komplett ummantelt. Darunter schliesst das Gipsrelief, gleichsam den Treppenaufgang rahmend, in der Breite der Brüstung auf der ersten Etage ab. Der Gips ist in feiner Spachteltechnik aufgebaut, die Flächen unversiegelt, also nicht nur wegen der bruchgefährdeten Kanten empfindlich gegen fahrlässige Berührung sondern auch gegen Verschmutzung. Mit der Präzision einer Zeichnung heben sich die im Weiss leicht changierenden Gipsflächen von dem Umraum ab. Doch gehorcht ihre Positionierung keiner formalen Logik, nach der sie sich aus der Architektur oder dem Foto erklären liesse. Eine äusserliche Übereinstimmung zwischen Bild und Flächenrelief findet sich nur vordergründig zwischen Pappkante und Gipsabschluss, zwischen Schauwand und Verkleidung. Beiden, der monumentalisierten Modellskizze mit ihren Veränderungen und der materiellen Beschaffenheit des Gipses haftet jedoch der temporäre Charakter des Zwischenzustandes und des Vergänglichen an.

Tatsächlich handelt es sich bei dem Bildmotiv um eines der typischen Arbeitsmodelle, mit denen Carsten Gliese seine Installationen plant und vorbereitet. Die Zustände spiegeln seine künstlerische Strategie, sich Architektur zu nähern. Er isoliert ein ihm auffälliges architektonisches Merkmal und untersucht dessen gestaltende und funktionale Bedeutung. Aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet er es in seinem architektonischen Umfeld, indem er Teile entfernt oder verändert. In dieser Beschäftigung kristallisiert sich seine Entscheidung für eine bestimmte Intervention in dem Ausstellungsraum heraus. Als raumfüllendes Bildmotiv verliert das Modell hier aber seine Gültigkeit als Hilfsmittel. Die künstlerische Bearbeitung des Raumes wird im Bild selbst mittels des Modells zu Ende geführt. In der konstruktiven Veränderung des Gleichen dokumentiert sich der künstlerische Arbeitsprozess. Die gleichzeitige Präsentation zeitlich aufeinander folgender Überlegungen als homogenes Gebilde im Bild wird zur künstlerischen Antwort auf den Ausstellungsbereich selbst.

Vor diesem Hintergrund können die Gipsfragmente als eine mögliche Veränderung, als Andeutung des Verhüllens, Verfremdens und Hinzufügens gedeutet werden. Sie verkörpern mittels ihrer Materialität nichts Endgültiges, Dauerhaftes. Mit ihrer Plazierung geben sie dem Bild einen Rand als Abschluss in der Fläche und ein artifizielles Gegenüber, durchaus auch im Sinne einer optischen „Flurbereinigung“, indem sie die durch Abdeckung und Fussleiste gestaltete Brüstung zu einem geometrisch klaren, edel gearbeiteten Körper formen. Ihre Ausrichtungen wollen ebenso wie das Bild abgeschritten oder umlaufen werden. Denn „Modell Hattingen“ hat kein Zentrum, sowie das Treppenhaus eine Verbindung von Stufen und Fluren über die Etagen ist.

Als wolle Carsten Gliese seine bisherigen künstlerischen Mittel einer Prüfung unterziehen, scheint er die Idee zu der Installation in der Reflexion seiner Arbeitsweise gefunden zu haben. Seine wirklich handgreifliche Art, im Modell mit Architektur umzugehen, sie sich regelrecht zu eigen zu machen, darin umzustrukturieren und in ein Kunstwerk zu übersetzen, formuliert er als durchaus „brüchige“ Korrespondenz einer virtuellen Raumvorstellung mit einer raumgreifenden Komposition, die in dem Treppenaufgang im Stadtmuseum Hattingen ihren motivisch angestammten Ort hat.

Die technische Voraussetzung zum bildhaften und bildwürdigen Ausdruck seines künstlerischen Denkens, manifestiert im Wandel des Modells, hat Carsten Gliese im Computer entdeckt. Hier hat er einen Weg gefunden, die Fotografie, von der er eigentlich kommt, als dokumentarische Vorlage für eine hochgradig ästhetisierende Bildbearbeitung wieder in das Zentrum seiner Arbeit zurückzuführen.


„Modell Dortmund II“ (2001) zeigt ein zweiteiliges farbiges Deckenbild in dem Verbindungsflur zwischen Foyer und Ausstellungsräumen des Künstlerhauses Dortmund. Das zusammengehörige Motiv der Fotodrucke organisiert wiederum eine Montage von Ansichten eines masstäblichen Pappmodells eben dieses Flures. Aus vier verschiedenen Perspektiven ist ein Ausschnitt mit dem Deckensturz zu sehen, der selbst als reale Architektur die Fotodrucke trennt.

Die Einzelbilder, die aus der Drehung der Kamera im Modell um den Sturz entstanden sind, gestaltet die Bildbeabeitung zu einer rhythmischen Abwicklung, in der der Sturz wiederholt sich über die Wände spannt und dabei sein architektonisches Vorbild wie selbstverständlich in die Komposition integriert. Diesen Eindruck bestätigt auch die gestaffelte Wiederholung des doppelten Wandvorsprungs, der sich als Verlängerung der Wand auf einer Seite terrassenförmig fortsetzt. Dabei behauptet sich das Bild in den warmen Brauntönen als motivische Fortsetzung der Architektur im Irrealen. Zu einer der Kopfwände hin wechselt im Motiv unvermittelt der Lichteinfall und die Perspektive. Ein wie im Traumbild aus dem Lot geratener enger Raum scheint sich über die Wand zu schieben und der nach oben in die Ortlosigkeit des weissen Hintergrundes laufenden Konstruktion ein Ende zu setzen. Hier richtet sich der Blick in die Enge des Flures selbst. Durch den Perspektivwechsel wird mit dem Verweis auf die eigentlichen Verhältnisse die Illusion luftiger Grenzenlosigkeit gebrochen und das Architekturensemble als ein nur im Virtuellen existierendes verortet.

Wie im „Modell Hattingen“ hat der Künstler sich seine Bildvorlage nach der Architektur im Modell geschaffen. Sein Stilmittel ist auch hier das der Freistellung und Montage der fotografierten Objekte. Ihre hyperrealistische Anmutung gewinnen sie neben der Vergrösserung aus der brillanten fotografischen Ausleuchtung und der Präzision bei der Bildbearbeitung.
„Modell Dortmund II“ gehört gewiss nicht zu den grössten, aber vielleicht zu den einfühlsamsten Arbeiten von Carsten Gliese. Es ist beeindruckend, wie er in der Tradition illusionistischer Deckenmalerei in diesem Flur, der nur hoch und schmal ist und eher verbaut wirkt, einen simplen Deckensturz zur Attraktion erhebt. Seine Himmelsarchitektur, gebaut aus dem Banalen, verwandelt den kleinen Flur in ein spektakuläres Kabinett des architektonischen Sehens.


Mit seinem Beitrag zu „direttissima“ (2001) und der Ausstellung im Atelierhaus, Hafenweg 22, (2002) realisierte Carsten Gliese zwei Arbeiten im Aussenbereich, die sich beide auf ein freistehendes Treppenhaus beziehen.
Bei „direttissima“ verhängt er mit der monumentalen Fotografie einer Modellarchitektur die Frontfassade des Treppenhausturmes in einem Wohnkomplex. Als überlängtes Hochformat zeigt die Fotoplane das Fragment eines stark vergrösserten Pappmodells mit einer Treppensituation auf zwei Ebenen. Die reduzierten Architekturformen sind jedoch nicht als massstäblicher Entwurf eines funktionalen Gebäudes konzipiert, also auch nicht von der Architektur ihrer Plazierung abgeleitet. In dem Motiv der Treppe liegt die Berührung zwischen Architektur und autonomer Modellvorstellung.

Der vorgelagerte Treppenhausturm verbindet mit seinem trapezförmigen Grundriss zwei Wohnblöcke, die sich von ihm wie an einem Gelenk symmetrisch nach hinten abwinkeln. An dieser Schnittstelle imaginärer Bewegung und Öffnung stellt der dokumentarische Charakter der S/W-Fotografie mit dem schmalen Einblick in eine Phantasiearchitektur die Fassade als die eines Wohnhauses in Frage. Kann die untere Etage noch als merkwürdig proportionierter Treppeneingang interpretiert werden, der trotz des hohen Betrachterstandpunktes über dem eigentlichen Eingang in das Treppenhaus eingebunden zu sein scheint, tendiert auf der zweiten Ebene der Kanon der durch die Bildgrenzen beschnittenen Architekturzitate zur Abstraktion. Das Modell setzt seinen eigenen Massstab, den es auch in der extremen Vergrösserung gegenüber seinem Umfeld behauptet. Die Fassade wird gleichsam von der Vision eines disfunktionalen Raumes hinterwandert, der in der Ästhetik des skizzenhaften Modells scheinbar von innen ihre Grenzen sprengt.

Mit der Konzeption dieser Arbeit, ebenso wie bei der folgenden, konfrontiert Carsten Gliese das Gebäude nicht über den Transfer im Modell mit sich selbst, sondern nutzt die spezifische architektonische Situation, dem Gebäude über die illusionistische Wirkung des Bildes ein fremdartiges Innenleben einzuschreiben. Es wäre unsinnig, in seiner mit solcher Klarheit inszenierten optischen Integration eine Idee der Verbesserung im Sinne einer Architekturkritik zu sehen. Er sensibilisiert die Wahrnehmung für das Volumen, die Funktion und durchaus auch für die Schönheit von Architektur. Dabei stellt er konsequent immer wieder neu die Frage nach der Perspektive, aus der heraus man sie betrachtet. In seinen Arbeiten visualisiert sich ein anderes Sehen auf das, was man gemeinhin als gebaute Realität bezeichnet. Es liegt in der Vorstellungskraft des Betrachters, über den ästhetischen Genuss mittels des im Modell vorgestellten Zitats eine gedankliche Neuorganisation der vorhandenen Architektur aus ihren formalen Gegebenheiten zu versuchen.


In dem verglasten Treppenhaus des Atelierhauses, Hafenweg 22, hinter das sich das Gebäude wie ein Riegel schiebt, hat der Künstler über die fünf Etagen ein S/W-Hinterglasbild aus Papier geklebt. Zu sehen ist wiederum in starker Vergrösserung eine Treppensituation im Modellbau, die jedoch, anders als bei „direttissima“, sich nicht als ein einheitliches Abbild präsentiert. Links unten schraubt sich über zwei Stufen ein Aufgang hinter den eigentlichen Eingang. Darüber hängt freischwebend eine zum Treppenhaus quer ausgerichtete Treppe, die sich im rechten Winkel mit einer weiteren verbindet. Diese wird ungefähr auf Höhe der Mitte des Gebäudes mit einer Brüstung unvermittelt abgeschlossen. Links von ihm ragt eine isolierte Wand auf der Mittelachse des Motivs beinahe bis an das Dach. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, das die beiden sich verbindenden Treppenelemente ein und dasselbe aus unterschiedlichen Perspektiven sind, so wie die nach oben führende Wand im Fragment gleich einer Brüstung auch unten auftaucht. Dies ist in erster Linie an dem irritierenden Element zu erkennen, das als Modell im Modell eingebettet ist. Es handelt sich dabei augenscheinlich um die Verschalung eines Handlaufes mit dem Stück Wand darunter und einem Teil der Treppe, die bei der Verschalung um die Hälfte der Stufen reduziert wird. Damit wird das Modell als ein Arbeitsmodell ausgewiesen, in das geplante Eingriffe installiert wurden. Doch scheint hier nicht der Ort zu sein, an dem das stattfinden soll.

Die Glasfront ist nicht vollständig durch das Bild abgedeckt. Die Modellansichten türmen sich wie Baukörper übereinander und gewähren neben und in ihrem Gefüge Einblicke in die Betonarchitektur des Treppenhauses. Ausschnitte der Wirklichkeit werden zum Bestandteil der Bildkomposition. Personen, die durch das Treppenhaus laufen verschwinden für den aussenstehenden Betrachter gleichsam in der verschachtelten Ordnung. Die Profile der einzelnen Glasscheiben gliedern das Bild in gleichgrosse Segmente. Wie eine systematische einverleibende Rasterung, erwachsen aus dem Bauprinzip des Atelierhauses, legen sie sich über das Motiv, dem der Betonmantel des Treppenhauses als gewaltiger Bilderrahmen.eine äussere Fassung gibt. Wie sehr der Künstler diese Installation als Bild begreift, zeigt sich auch daran, dass drei in Grauabstufungen gehaltene Winkel, von denen nur der obere durch eine Ahnung von Schatten belebt wird, das Motiv regelrecht mit geometrisch-abstrakten Formen verklammern.


„Modell Münster“ (2002) ist das bislang einzige Werk von Carsten Gliese, das fest installiert an seinem Ort verbleibt. Für die Sparkassenakademie Münster hat der Künstler einen Bildteppich entworfen und in der Brücke zwischen zwei Gebäudekomplexen verlegt. Es handelt sich um einen verglasten, dem Gebäude vorgelagerten Gang, der leicht ansteigend das Foyer mit dem Hotelbereich verbindet.

Das Motiv des Teppichs zeigt eine Montage aus computerbearbeiteten S/W-Fotografien vornehmlich aus dem Vorraum zur Kantine, den man über diese Brücke erreicht. Es sind in den Grössenverhältnissen und Perspektiven wechselnde, fotografisch freigestellte Situationen der Architektur vor einer dunklen Fläche. Gleich zu Beginn empfängt ein Bild der geöffneten Doppeltür den Betrachter, durch die er gerade den Flur betritt. Sie schwebt über und vor einem Ausschnitt des Teppichs mit weiss punktierter Musterung, den der Bildteppich jetzt in dem Gang ersetzt und der auch in dem Bereich ausgelegt ist, aus dem seine weiteren fotografischen Einzelmotive stammen. Über die Tür fällt der Blick auf das runde abschliessende Geländer einer Wendeltreppe, das der Architekt als Blickfang über die Mittelachse der Brücke in dem Vorraum plaziert hat. An diese Bildkonstellation, die gleichsam die räumlichen Koordinaten seiner bildlichen Raumabwicklung markieren, fügt Carsten Gliese, einem Legespiel gleich, Architekturzitate aneinander. Fragmente des Teppichbodens schweben wie grosse geometrische Inseln auf verschiedenen Ebenen vor- und nebeneinander. Dazwischen stellen sich Wände aus Naturstein, bauen sich Pfosten auf, öffnen sich unvermittelt Türen in eine tiefe Raumflucht oder stehen verschlossen wie ein rechteckiges Blatt im Motiv. Eine schwarze Fussleiste zieht sich in Form einer Linienzeichnung über das Bild. In der mittleren Partie verläuft sie in Gestalt eines schmalen Steges zwischen den Inseln und überbrückt die Kluft zwischen den Architekturelementen. In der Bilderscheinung vergleichbar flankiert sie ein schmaler Ausschnitt der Deckenfläche, der durch die serielle Anordnung der Beleuchtungskörper als hell gepunkteter Streifen eine formale Analogie zu dem Teppichmuster aufweist. Am Ende der Motivkette, also beim Verlassen des Ganges, richtet sich die Perspektive aus der Ferne zurück in den Glasflur.

Bei der Komposition seines Bildteppichs hat Carsten Gliese die fotografische Erfassung des Vorraumes derart abgewickelt, dass die abgebildeten Segmente, wenn man sie sprachlich bezeichnete, folgerichtig aufeinanderträfen: „Der Deckenstreifen stösst hier an die Wand, von der aus die Fussleiste zu dieser Tür führt, die über dieses Teppichfragment mit jenem Pfosten verbunden ist... Da jedoch zu der Konstellation ein verbindlicher Betrachterstandort fehlt, der Perspektivwechsel beim fotografischen Schuss und Gegenschuss in der Montage eine Trennung zwischen oben und unten, rechts und links aufhebt, und zusätzlich eine Grössenverschiebung im Spiel auf unterschiedlichen Ebenen stattfindet, übersteigt die komplexe Raumbeschreibung das Abstraktionsvermögen. Obwohl alles im Detail zu identifizieren ist, gelingt es nicht, sich aus der Motivkette den abfotografierten Raum zu einem einheitlichen Ganzen zu rekonstruieren.
In die lichte feingliedrige Stahl- und Glasarchitektur der Brücke hat der Künstler eine ebenso filigrane Architekturinterpretation als begehbares Bild installiert. Mit einer grandiosen Komposition rollt er einen Bereich des Gebäudes gleichsam aus und stellt unsere Sehgewohnheiten damit buchstäblich auf den Kopf. Diese Installation ist für die Leute gemacht, für die die Akademie gebaut wurde - die Benutzer eben, die diesen Flur mehrfach durchqueren und im Überlaufen des Bildteppichs immer präziser Abbildung und Erinnerung an den Vorraum übereinbringen und dadurch „Stück für Stück“ intuitiv mehr von seiner inneren Ordnung verstehen.

Es ist ein modellhaftes Denken, das Carsten Gliese mit seinen in grosser Genauigkeit ausgeführten Installationen anstösst. Sein künstlerisches Interesse gilt der Architektur, die über ihre Funktion und Dimensionierung geometrischen Raum und Lebensraum gleichermassen definiert. In einem künstlerisch motivierten analytischen Vorgehen beginnt er über Modelle und Fotos Architektur zu sezieren, um darin eine Bildsprache oder Gestaltung zu finden, die sich nicht als Gegenbild, sondern als transformiertes Bild der Architektur in dieselbe einfügt. Eine Besonderheit seines Zugriffs liegt in der Bedeutung, die er dem Bruch in der Perspektive bei der Darstellung von Architektur beimisst. Es ist ein differenziertes Spiel mit dem einzunehmenden Standort und der Idee der Bewegung, in der sich der Raum erst erschliesst. Diese wird folglich immer zu einem Aspekt und zum Gegenstand der Reflexion bei der Betrachtung seiner Installationen. Nicht von ungefähr wählt er als Ausgangspunkt häufig architektonische Situationen des Übergangs wie Flure, Treppen, Vorräume etc. Carsten Glieses Interventionen sind in sich schlüssige Gestaltungen, die allein durch ihre ästhetische Präsenz schon einen überwältigenden Eindruck hinterlassen können. Aber sie wollen nicht nur als imposante Verfremdungen der Architektur gelesen werden. In ihnen lebt die Idee ständiger Erneuerung und Veränderung, die das aktive Sehen von Architektur gleichermassen wie die Befragung dieses Sehens betrifft.

Während eines Ausstellungsaufbaus meinte er: „Irgendwie arbeitet man die Orte einfach so ab.“ Das ist richtig. Jeder Ort stellt sich ihm mit einer einzigartigen Fragestellung, die er intuitiv erspürt und als Architektur der imaginären Vereinnahmung modelliert. Deswegen hat die Floskel der „raumbezogen Arbeit“ bei ihm substantiellen Sinn.