Carsten Gliese:1:1

Begleittext aus dem Katalog "1:1" von Susanne Schulte, 1999


Die Welt in unserem Kopf IST nicht, sie WIRD erst durch uns. Wir schaffen die Welt in den Kopf. Aber wer sind wir? Wir sind Träger eines Organs zur Schaffung von Weltbildern, das auch Hirn genannt wird.
Ernst Peter Fischer: Die Welt im Kopf

Drei „Modell“-Arbeiten Carsten Glieses - „Modell Hagen“, „Modell Bochum“, „Modell Hawerkamp“ - dokumentiert der Katalog „l: 1 “. Unter diese Überschrift stellt der Künstler Installationen, Modelle in ihrem jeweiligen architektonischen Pendant, die Modellbildung und Modellhaftigkeit in der Kunst wie im Leben thematisieren und die darüber hinaus lesbar sind als Modelle von Wahrnehmung als Modellbildung, von Erkenntnis nicht als Abbildung sondern als Konstruktion.

„1:1“Das Modellverhältnis erscheint zunächst im Katalogtitel „1:1“ ganz konventionell als eine zweistellige Relation zwischen empirischen Objekten, dem baulichen Original und seinem künstlerischen Mo­dell. Dieses ist in den Installationen Carsten Glieses dem „echten“ Gegenstand, seinem Bezugsraum - der Hawerkamphalle in Mün­ster, dem Foyer der Industrie- und Handelskammer in Hagen oder dem Treppenhaus im Museum Bochum - nachgebaut. Die Präsen­tation der Modell- als einer 1:1 -Beziehung scheint mit der formalen Beschreibung ihre Objektivität zu implizieren, als handle es sich dabei um ein exaktes Urbild-Abbild-Verhältnis bzw. eine um sub­jektunabhängige strukturelle, lsomorphie- oder Analogierelation zwischen (primärem) Original und (sekundärem, zwei- oder drei­dimensionalem) Modell. Für diese spräche auch das Medium Foto­grafie, aus dem die Arbeiten entwickelt sind, mit seinem Nymbus der Authentizität, der irgendwie 1:1-Wiedergabe eines Objektes.

Doch die Annahme einer solchen Objektivität wäre naiv, was nicht nur die Reflexion des Modellbegriffes an sich, sondern schon ein genauerer Blick auf Katalog- und Einzeltitel merken läßt, repräsentiert doch der Doppelpunkt im „1:1“ ein Verhältnis, in welches ein Subjekt zwei materielle Gegenstände setzt, also einen geistigen Akt als den Ursprung der Relation. Das Modellsystem wird mithin als dreistellig erkennbar, seine Positionen sind: Original - Subjekt - Modell. Ein Modell ist ein subjektives Konstrukt, das ein Ich für bestimmte Zwecke, nach seinen Interessen herstellt. Dieses Ver­hältnis ist auch anhand der Einzeltitel Carsten Glieses zu reflek­tieren. Gerade indem sie die Präposition oder Deklination aussparen, die die Beziehung des Begriffs „Modell“ zum Namen des jeweili­gen Ortes regelt, weisen sie auf das Titel gebende bzw. lesen­de Subjekt zurück, auf seine Möglichkeiten, die beiden Wörter in Beziehung zu bringen, auf die Notwendigkeit, in dieser Hinsicht z.B. das „Modell Hagen“ zu befragen, sowie auf die Reflexion dieses Fragens und Konstruierens selbst: Handelt es sich um ein Modell etwa im Foyer der SIHK Hagen, um ein Modell dieses Foyers, um eins des Foyers im Foyer selbst oder ist gar die gesamte Arbeit ein Modell für etwas andres, von etwas andrem, das unausgesprochen bleibt? Und wenn so breit gefragt wer­den kann, ist dann eine „1:1“-Relation so unproblematisch und voraussetzungslos eindeutig, wie es die mathematische Schreibweise nahelegt? Am Beispiel - Modell? - des“Modells Hagen“ möchte ich diesen Fragen nachgehen.

1In der Decke des Foyers der Südwestfälischen Industrie- und Han­delskammer in Hagen befindet sich mittig, etwa ein Drittel der Raumbreite in Längsrichtung überspannend, ein Giebeldach, das architektonisch hervorstechendste Element des Raumes. Es mißt 28 m x 2 m und ist verglast, dem Raum gibt es Höhe und Tages­licht. Seitlich begrenzt ein Sims das Fenster, in größerem Abstand queren es weiße Betonträger. Die weißen Fenstersprossen und der gleichfarbige First strukturieren die Glasfläche. Wie ein Passepar­tout flankieren das Fensterdach eine Lichtrohr- und eine Strahler­leiste. Der Steinfußboden des Foyers ist hell, die weißen Wände sind fensterlos. Türen aus Holz oder Glas führen zu den anliegen­den Seminar- und Konferenzräumen, Fluren, Innen- und Außentrep­pen. Die üblichen Utensilien einer Durchgangs- und Wandelhalle statten diesen Zweckraum aus: Stühle, Tische, Aschenbecher, Heizkörper, Lampen, Hinweisschilder, Notfallgeräte, Grünpflanzen, Abgestelltes, Geparktes.

:1In Hagen hat Carsten Gliese ein so genanntes „Modell“ in das Lichtdach des Foyers gehängt, welches er, wie ein Maler die Lein­wand, als Bild- bzw. Modellträger benutzt. Dieser changiert je nach Wetter und Tageszeit zwischen weiß, grau, blau, mal ist er gelb und rot oder schwarz; immer trägt er die Farbe des Himmels. Seiner alltäglich-pragmatischen Funktion ist das Lichtdach somit enthoben, als farbiger Modellträger ist es in einen ästhetischen Kontext überführt.

Im Lichtdach nahm ich zunächst einen langgestreckt flachen, den funktionalen Geraden, Flächen und Winkeln des Umraums konträ­ren, kantigen und verwinkelten, teils flächigen, teils linienförmigen, zierlichen Schwarz-Weiß-Grau-Körper mit leicht bräunlichen Rän­dern wahr. Das Objekt war nicht auf den ersten Blick identifizier- ­und benennbar, obwohl es den Begriff „Modell“ im Titel führte. Es hatte mein ästhetisches Interesse erregt, es gefiel mir durch seine Form. Ich untersuchte die Technik. Mit Saugnäpfen und Fäden hing es an den Glasscheiben. Fotografische Bilder waren auf Honey­board aufgezogen und einzelne Formen ausgeschnitten. Die Kartonkante wurde nicht kaschiert, so daß das Gerüst der aufgeschnittenen und angerissenen Pappwaben sichtbar blieb - Spuren des Herstellungsprozesses, Betonung der Kante und des Ge­machtseins, ein Moment von Imperfektion. Bei näherem Hinschau­en, die Strecke abwandernd, den Kopf dabei tief in den Nacken gebeugt, geleitet von der theoretischen Vorgabe des Titels „Modell Hagen“, konnte ich dieser Struktur, zunächst nur partiell, Gegenständlichkeit und Bildhaftigkeit, Bedeutung, zuschreiben. Ich er­kannte fotografisch reproduzierte Elemente des Raumes, in dem ich mich bewegte, wieder, eine Stuhlgruppe, einen Ascher, das Gerippe des Lichtdachs selbst in dem blauen Modellträger mit wei­ßen Leisten über mir. Diese Teile waren mit andern, die ich (noch) nicht benennen konnte, wie eine Kette aneinandergereiht zum „Modell“. Die unbekannten Objekte, so schloß ich aus dem Titel, wären auch aus Fotografien des Foyers gemacht. Diese An­nahme leitete mein Tun. Hin- und hergehend, mich drehend, denn Oben und Unten waren nicht zu bestimmen, suchte ich den Ort nach Formen, die ich im „Modell“ sah, ab. Meinen punktuellen Ein­druck konnte ich ergänzen und andere Raumgegenstände in den bizarren Formen unterm Himmelsgrund identifizieren: Heizkörper mit anschließendem Fensterrahmen in Form des großen Druckbuch­stabens „E“, daran ein Deckenträger, an diesem Lampenröhren etc., alle aus Fotos mit ihrem Ursprungskontext ausgeschnitten und bis auf eine winzige Schnittstelle auch voneinander isoliert - freige­stellte, fragile, selbständige Formen, schwarz-weiß in blauen Grund gesetzt. Das ästhetische, das absolute Formmoment schien die Ab­bildungstunktion des Fotografierten jedoch in den Hintergrund zu weisen. Dennoch interessierte ich mich weiter für das Modellhafte am so genannten „Modell“. Am Ende erkannte ich die Hängekon­struktion als ein Gebilde, welches alle Elemente des Foyers auf­weist in der Reihenfolge, wie sie in diesem vorkommen und auch in dessen Logik von Lampe-an-Decke-an-Wand oder Stuhl-auf-Fuß­boden etwa, doch mehrmals um 180 Grad - quasi jeweils mit dem abgebildeten Lichtdachgerippe als Achse - gekippt. Die Mitte des Modells ist der Ort, bemerkte ich schließlich, wo sich die beiden Enden des repräsentierten Rundblicks treffen; nicht von links nach rechts, am einen Ende des Lichtdachs beginnend, am anderen endend, komplett linear stellt es ihn dar. Meine Betrachtung, mein entdeckendes Kreisen, schloß diese Kreisbemerkung ab.

Der Produktionsprozeß vollzog sich folgendermaßen. Carsten Gliese hat das Foyer der Südwestfälischen IHK zunächst ganz pragmatisch abgeknipst. „Es ging mir“, wie er sagt, „nicht um gute Fotografie, sondern einzig um eine fotografische Bestandsaufnah­me des Raumes nach dem Kriterium, daß das Vorhandene voll­ständig abgebildet ist“. Hier wird Material gesammelt, der Raum in zweidimensionale Schwarz-Weiß-Bilder übersetzt und zerlegt. Dabei nimmt der Fotograf seinen Gestaltungswillen maximal zu­rück. Im zweiten Schritt sichtet er Dutzende von Abzügen und sortiert die „Glücksschüsse“ (Gliese) aus, solche Bilder mit For­men, die ihn persönlich interessieren und die zugleich den Raum repräsentieren. Er scannt sie ein, stellt die „schönen“ (Gliese) Formen - das Formmoment akzentuiert die auf’s Schwarz-Weiß reduzierte Farbigkeit - digital frei und druckt sie in der benötigten Größe aus.
Analyse und Zerlegung folgt die Synthese. Die Foto-Ausschnitte sind, neben dem attraktiven Lichtdach, das Material der künst­lerischen Gestaltung Carsten Glieses im engern Sinn. Er kombi­niert, ich fasse zusammen, die auf Honeyboard aufgezogenen und ausgeschnittenen Formelemente entsprechend der realen Abfolge der korrespondierenden Elemente im Raum, wobei sich Anfang und Ende des Rundblickbildes in der Mitte des Modells treffen, nach Maßgabe des Formates, welches das Dachfenster vorgibt, und nach seinem inneren Form- und Schönheits­empfinden. Eine ästhetische Konstruktion ist über einen komple­xen, subjektiven, intuitiv wie konzeptuell geleiteten Transfor­mationsprozeß in der Lichtachse eines kunstlosen Zweckraums entstanden, welcher der Künstler den Titel „Modell Hagen“ gibt.

In der Reflexion sind der Rezeptions- wie der Produktionsprozeß beim „Modell Hagen“ als komplexe, ideell geleitete subjektive Konstruktionshandlungen erkennbar, die zwischen dem Abbild im „Modell“ und seinem Referenten im Raum kreisen, und zwischen dieser Zuschreibung und der Wahrnehmung reiner und schöner, autonomer Form die Schwebe halten. In der produktiven und rezep­tiven Auseinandersetzung mit dem „Modell Hagen“ wird sein Origi­nal, das SIHK-Foyer, vom Gegenstand praktischer Nutzung in ein Objekt der ästhetischen Betrachtung und Gestaltung überführt. Nicht mit einem pragmatischen Zwecken dienenden Normal­Modell haben wir es zu tun, sondern mit einer aus Anlaß und mit den Gegebenheiten des Raumes als ihrem Material realisierten ästhetischen Modell-Idee.

1:1Carsten Glieses „Modell“ in der südwestfälischen Industrie- und Handelskammer konterkariert den Begriff des Modells, der dem repräsentierten, ökonomisch orientierten Lebensbereich, den Alltagskonventionen eignet. Modelle sind Mittel zu ihnen äußeren Zwecken. Aufgrund einer Struktur-, Verhaltens- oder Funk­tionsanalogie zum Original liefern sie Erkenntnisse über es, die mittels direkter Operationen zu gewinnen unmöglich oder zu aufwendig wäre. Carsten Glieses „Modell“ jedoch indiziert nicht und es demonstriert nichts, was ohne es in der Realität bei eini­ger Aufmerksamkeit nicht sichtbar wäre, auch wenn es mit Foto­ausschnitten von Wirklichem und mit Gestaltanalogien arbeitet, welche die Bezeichnung „1:1“ rechtfertigen könnten. Die Funkti­on der Ableitung von Steuerungsprozessen oder der Projektie­rung gar scheint ein solches Pappmodell vollkommen ad absurdum zu führen. Es kann nur angeschaut werden, sonst kann man, im Sinn der Lebenspraxis, nichts mit ihm tun. Mehr noch, der Künstier stellt mit dem „Modell Hagen“ in gewisser Weise sogar die Zweck-Mittel-Relation von Original und Modell auf den Kopf. Auch demgemäß hat er die Ansicht über Kopf mehr­fach um 180 Grad gekippt und das Modell gewiß nicht ohne metonymische Hintergedanken gerade über dem Kopf des Betrachters installiert, dem es selbigen verdreht, wenn es ihn in eine Art Hans-guck-in-die-Luft verwandelt (vielleicht), der in der ästhetischen Betrachtung punktuell seinen Arbeitskontext ver­gißt ... Denn das Original gebrauchte Carsten Gliese ‚nur’ als Mittel und Material für sein „Modell“, die Fotos vom Foyer liefer­ten ihm das Formenreservoir zur Gestaltung seines eigentlichen, des ästhetischen Zwecks. Das „Modell Hagen“ ist Zweck in sich selbst, nicht nachgeordnete Repräsentation des IHK-Kon­textes und seiner Zwecke, sondern selbst Original, das diese relativiert und hinterfragbar macht. Es ist, was es ist - 1:1.
Zweckfreiheit ist das genaue Gegenteil von Sinnlosigkeit, initiiert doch das „Modell Hagen“ einen komplexen Rezeptionsprozeß, der mit der Arbeit immer auch sich selbst bedenkt. Gerade an der Grenze zur Abbildungsfunktion legt er die spezifische Quali­tät des Kunstwerks frei: seine Selbstreferentialität als die ästhetische Funktion par excellence, die sich aus seiner zwar regelgeleiteten, doch nicht zweckdienlichen Form ergibt. Das Kunstwerk ist nicht Zeichen für etwas anderes, Modell eines Originals, in dem es aufginge, sei dies ein Referent, sei’s eine ideelle Bedeutung. Begrifflich nicht aufhebbar verweist es zuerst und zuletzt auf sich selbst - in einer Art Kreisbewegung,
die in der Arbeit selbst, konsequenterweise, Bild wird in dem oben besprochenen Zusammenschluß beider Enden in der Mitte.

Indem das „Modell Hagen“ nicht von sich weg und auf ein der Betrachterin Äußeres zeigt, wirft es die Rezipientin aber auf sich selbst zurück, auf die Beobachtung dessen, was sie tut, wenn sie sich mit ihm befaßt. Zunächst implizit, in der Beschrei­bung und in der Nichtung aller pragmatischen Zwecke, dann explizit ist Wahrnehmung selbst thematisch, wofür der genannte Kreis ebenfalls metaphorisch steht. Das „Modell Hagen“ ist als das Hagener Modell für Wahrnehmung lesbar, worin ein Original, das Foyer, und dessen ästhetisches „Modell“ im Himmelsdach für den wahrzunehrnenden Gegenstand und sein Bewußtseins­korrelat stehn, worin die Rezeption des Kunstwerks aber, weil darin der alltägliche Wahrnehmungsautomatismus gestört ist, den Akt der - naiv formuliert - Transformation eines materiellen Objekts in eine Bewußtseinstatsache reflektierbar macht. Wahr­nehmung, so läßt uns das „Modell Hagen“ erfahren, ist nicht so etwas wie wahllos Abfotografieren oder Knipsen, sondern eine, wenn auch zumeist unbewußt gesteuerte, aktive Handlung des Subjekts. Beim Sehen entstehen nicht Bilder als Abbilder des Gesehenen im Gehirn, sondern das Ich generiert seine Konstruktionen der Objekte. Wahrnehmung ist kreative Gestal­tung und beschreibbar mit dem Modell des Modells. Die Weit ist unser Modell von ihr, geschaffen, das zeigen Carsten Glieses Modelle, durch hypothesen- und interessengeleitete Akte der Konstruktion: „1:1“.