Das Auge der Kamera

Begleittext von Renate Puvogel im Katalog "Carsten Gliese Arbeitslicht", 2009

Das Thema Bildhauerzeichnungen hat eine Jahrhunderte lange Tradition. Dass für einen Bildhauer die Fotografie eine entscheidende Rolle spielt, ist hingegen bis heute nicht gerade üblich. In den 90er Jahren treten die sogenannten Modellbauer wie Thomas Demand, Oliver Boberg oder Lois Renner auf den Plan. Sie überraschen mit Fotografien von Innenräumen, urbanen Situationen oder grotesken Phantasiearchitekturen, denen man nicht ansehen kann, dass ihnen gebastelte oder kunstvoll gebaute Modelle aus Papier, Pappe oder Holz zu Grunde liegen. Selten bekommt der Betrachter diese kleinen, dreidimensionalen Wunderwerke zu Gesicht, vielmehr gilt einzig das Endprodukt, nämlich die rätselhafte wie aufschlussreiche farbige Fotografie als Kunstwerk. Sie ist das bildhafte, teilweise symbolhaltige Resultat aus Beobachtungen, Reflexionen und kritischen Auseinandersetzungen der Künstler mit der Welt.
Im Gegensatz zu den Modellbauern nimmt die Arbeit bei Carsten Gliese ihren Anfang mit dem Fotografieren. Systematisch tastet er mit der Kamera jenes räumliche Areal ab, für das eine Arbeit gedacht ist und in oder an dem sie zu sehen sein wird. Er setzt sich mit Geschichte, Architektur und Funktion eines Raumes auseinander, erfasst seinen Charakter, lenkt sein Augenmerk bzw. die Kamera auf besondere architektonische und installative Eigenheiten wie Simse, Erker und Treppen, Wasser- und Stromleitungen oder Heizungen. Die eingehende Analyse schlägt sich in einer fotografischen Dokumentation nieder und sie liefert das Material für seine konstruktive Interpretation des Raumes. Diese fotografische Neuformulierung ist weniger systematisch als vielmehr subjektiv und von hoher Originalität und sie bietet den sinnlichen Eindrücken wie den geistigen Erkenntnissen neue Nahrung.
Eines der ersten Raumarbeiten Glieses, "o.T." von 1993 (1), eine Installation im Torraum der Kunstakademie, ist wiederholt beschrieben worden, stellt doch die fünfstufige "Sehpyramide" gewissermaßen die Keimzelle für alle weiteren fotogestützten Skulpturen im Raum dar. Beispielhaft kann man anhand dieser pyramidalen Konstruktion erkennen, dass Gliese generell von jenen Bildern ausgeht, welche das Kameraauge aufnimmt. Obgleich die Kamera eigentlich ein rundes Bild empfängt, schneidet die Maske dieses zu einem Rechteck. In jedem Falle handelt es sich bei dem Kamerabild um eine Fläche. Geht man von dieser rechteckigen Fläche aus, so lässt sich von der Kamera zum abgebildeten Objekt eine Pyramide denken, die von der Bildfläche geschnitten wird, es ist die Sehpyramide der Kamera. Die sich von dem einen Kameraauge zum avisierten Objekt verbreiternde Pyramide steht im Gegensatz zu den beiden menschlichen Augen, welche die Objekte nur punktuell erfassen können. Im Unterschied zu dem wandernden Blick der Augen vermag die Kamera einen Teil des räumlichen Neben- und Hintereinanders gleichzeitig zu erfassen und festzuhalten. Möglicherweise resultiert die frappierende Wirkung der in den Raum ragenden plastischen Figur der erwähnten Arbeit, wie sich auf irritierende Weise mehrere Blick- und Bewegungsrichtungen in unauflöslicher Weise zu überlagern scheinen. Als wesentlich in unserem Zusammenhang bleibt die Tatsache, dass die Kamera ein rechteckiges Bild produziert – ein entscheidender Parameter für Glieses fotogestützte Arbeiten: sie basieren alle auf einer Aneinanderreihung von rechtwinklig begrenzten Flächen.
Infolge dieses grundlegenden Charakteristikums weisen nicht nur sämtliche Details der Fotos, sondern auch die dreidimensionalen Modelle und Skulpturen eine minimalistisch konkrete Form auf. Rundungen kommen selten vor. Gliese korrigiert diese grundlegende Maßgabe auch dann nicht, wenn er die Fotos digital bearbeitet. Die klassische, schnörkellose Bau- und Konstruktionsform bestimmt sein Gestaltungsvokabular, für ausschweifende Phantastereien bleibt kein Raum; und dennoch bergen seine Kreationen genügend Momente, die aus dem Rahmen des Realen ausbrechen. Gliese findet und erfindet überraschende und überzeugende Wege, mit denen er visuelle Eingriffe in zu gestaltende Baukörper beschreitet, um das Vertrauen in gewohnte Übereinkünfte zu erschüttern und das Gefühl für Statik und die hierarchische Ordnung von Baukörpern aus den Angeln zu heben. Er entwirft geradezu schwindelerregende Raumkonstruktionen, wenn man sich etwa die Deckenarbeit "Modell Hagen" (2) von 1999 vor Augen führt. Da Gliese existierende Bauteile in seine Gesamtkomposition miteinbezieht, werden einer barocken Deckengestaltung vergleichbar die Übergänge von Zwei- zu Dreidimensionalem fließend.
In den einzelnen Fotos sind durchaus noch charakterisierende Elemente eines Raumes zu erkennen, ja, Gliese schärft sogar den Blick für normalerweise übersehene Bauteile. Doch indem er nachprüfbare Details zusammenfügt, geraten sie zu einem spielerisch entwickelten semiotischen System von Zeichen, Formen und Symbolen. Wie in einem Dominospiel setzt Gliese Foto-Baustein an Foto-Baustein. Das Ergebnis rollt sich zwar dem jeweiligen Raumverlauf entsprechend folgerichtig ab, verwirrt dennoch durch den Wechsel aufnahmebedingter Perspektiven und selbst gewählter Dimensionen. Und es erstaunt, wie Gliese mit den ausschließlich scharfkantigen Architekturzitaten gelegentlich eine nahezu runde, zentrumsbetonte Gesamtkomposition herstellt, wie es ihm mit dem "Modell Osthaus" (3) gelingt. In der unregelmäßig geschnittenen Halle des Karl Ernst Osthaus Museums Hagen sind in seinem farbigen Teppich Rundungen den eckigen Formen wie in einem Kaleidoskop gleichsam eingeschrieben. Es ergeben sich Ornamente und wiederkehrende Muster, ist dies doch sämtlichen Arbeiten gemein, dass der gesamten Komposition ein hoher Grad an Abstraktion zukommt, obgleich doch alles einen gegenständlichen Ursprung hat und auch jederzeit auf ihn zurückzuführen ist.
Wie sehr sich Gliese mit Architektur auseinandersetzt und das Formenvokabular historischer wie zeitgenössischer Architektur verinnerlicht hat, belegen seine "Zwischenbebauungen" (4), fotografische Interventionen an Hausfassaden im urbanen Raum. Auch hier greift Gliese nicht etwa in die vorhandene Substanz ein, sondern fügt einem Baukörper lediglich temporär und additiv eine bis zu haushohe visuelle Fotoapplikation hinzu. Es versteht sich von selbst, dass er für seine Konzepte nicht in sich stimmige Bauten aussucht, sondern solche, die als Einzelbau oder im städtebaulichen Zusammenhang Fehlstellen aufweisen. Mit solchen rein optischen Eingriffen stört er Sehgewohnheiten, und zwar umso mehr, als er im vorgeblendeten Foto Häuserkanten quasi versetzt, Fensterbänder verschiebt oder Treppen collageartig dergestalt stückelt und neu zusammenfügt, dass man letztlich nur noch von der Metapher einer Treppe sprechen kann. Indem er architektonische Details ins Visier nimmt, sie im Foto präzisiert, verdoppelt, vergrößert und mit weiteren kombiniert, kehrt er Merkmale von zuvor eher zufälligen, vernachlässigten oder verdeckten Baugliedern als wesentliche hervor und verschafft einem Bau oder einem ganzen Häuserensemble den Anstrich eines großzügigen Beispiels moderner Architektur. Darüber hinaus leistet Gliese mit seinen visuellen und sogar visionär zu nennenden Angeboten einen bemerkenswerten Beitrag zum Problem der Restaurierung vorhandener Bausubstanz, insbesondere jener der durchschnittlichen Nachkriegsarchitektur. Denn allzu oft artet die Neugestaltung einer Fassade in Dekoration aus und begräbt damit das ursprüngliche Aussehen gänzlich unter einem baufremden Gewand. Gliese untermauert aufs Neue die berechtigte Forderung, dass man das Restaurieren einem fachkundigen Gestalter oder einem Künstler anvertrauen sollte, denn einer wie er entwirft die Neugestaltung aus einer Kombination von Wissen um die Baukonstruktion und unabhängiger Kreativität.
Nicht nur bei den zweidimensionalen Arbeiten im Innen- und Außenraum, sondern auch bei den dreidimensionalen Modellen und Skulpturen gelangen Dokumentarfotos zurück in den architektonischen Raum. Dort verkleiden sie entweder die Oberflächen der einzelnen Skulpturelemente oder sie sind über den Zwischenzustand eines Modells gänzlich umgewandelt in plastische Gestalt. Ganz fern liegt wohl ein Vergleich von Glieses Vorgehensweise mit den Methoden des analytischen und synthetischen Kubismus nicht, allerdings mit dem Unterschied, dass beide Stufen in jedem einzelnen Werk stattfinden. Folgt in den Fotos dem analytischen Schritt der Bestandsaufnahme die Synthese, in welcher er die Details kombiniert, so ergibt sich in den Skulpturen aus dem analytischen Erforschen eines Raumes, dass sich schließlich im Raum vorhandene und vom Künstler entworfene Bauteile quasi durchdringen. In den skulpturalen Arbeiten stoßen drei Realitätsebenen aufeinander, die des Fotos, die des plastischen Körpers und die des beide Komponenten umhüllenden realen Raumes. In den drei Modalitäten konkurrieren auch unterschiedliche Maßstäbe, der Architektur kommt ein anderer Maßstab zu als der Skulptur, während im Foto jeder Maßstab außer Kraft gesetzt ist. Diese Gegensätze spielt Gliese in den Arbeiten auch bewusst voll aus, denn seine Skulpturen schieben sich machtvoll und sperrig in den Raum. Angesichts der minimalistisch anmutende Skulpturen fällt es schwer, ihre wahrnehmbare Gestalt mit ihrer logischen Konstruktion und Funktion in Einklang zu bringen. Zum Vergleich lassen sich die skurrilen Eckskulpturen von Richard Artschwager heranziehen, etwa die Skulptur eines Tisches, der diejenige plastische Gestalt angenommen hat, wie man das Möbelstück von einem einzigen Blickwinkel aus wahrnimmt. Gliese addiert demgegenüber die Ergebnisse mehrerer perspektivischer Sichtachsen zu einer mehrteiligen Skulptur.
Die Methode, einen Innen- oder Außenraum aus unterschiedlichen Blickwinkeln aufzunehmen, weitet Gliese seit einigen Jahren zu autonomen Fotografien aus, in welchen einzig und allein das Licht ein Raumgefüge so sensibel wie radikal uminterpretiert. Durch mehrfaches, gelegentlich bis zu 100faches Belichten des Filmmaterials, werden Raumpartien überbelichtet, wodurch sie samt ihren Konturen bis zur Unsichtbarkeit verschwinden, so, als seien sie ausradiert. Raumecken sind eliminiert oder aber versetzt, verdoppelt, ja, ganze Raumteile sind hinzugewonnen, und das, ohne der vorhandenen Substanz Gewalt angetan zu haben. Im Unterschied zu Georges Rousse überblendet Gliese nicht einen Raum mit einem ihm fremden Ornament, sondern gewinnt seine verblüffenden optischen Eingriffe ausschließlich aus dem existenten Material. Und wiederum ist es die Kamera, der diese Veränderungen zu verdanken sind, sie erschafft neue Raumzusammenhänge. Schließlich kommt es in dem endgültigen Foto zu einem wundervollen Dialog zwischen den lichten und dunklen Partien; sie sind so austariert gesetzt, dass man das Foto als abstrakte Komposition lesen kann. Die dargestellten Gegenstände und Raumteile kippen zwischen der in die Fläche gezogenen Perspektive, ihrer Raumhaltigkeit und skulpturalen Qualität. Sowohl die überstrahlten als auch die verschatteten Bereiche weisen sehr feine Nuancen in Intensität und Abstufung von Licht und Farbe aus. Solch sensible Graduierung und sinnliche Ästhetik dürfte nicht zuletzt darauf zurückzuführen sein, dass Gliese ausschließlich mit einer analogen Kamera arbeitet. Das gegenüber dem digitalen Pendant aufwändigere Prozedere wird aufgewogen durch die unvergleichliche, eigene Fotoqualität, wie Gliese hervorhebt. So lässt der Künstler auch Störungen im Bild stehen. Neuerdings erscheint die Lichtquelle sogar selbst im Foto. Aufgrund der Belichtungsfolge fasst eine Reihe winziger Lichtpunkten der Lampe das zentrale Fotomotiv wie ein ornamentales Band ein (5). Die Lampe selbst kann zum Lichtobjekt werden, nicht etwa selbstreferentiell, wie man es von Horst Keinings Arbeiten kennt, oder gar didaktisch, vielmehr wandelt sich das Arbeitslicht zum wundervollen Bildmotiv. Und hier erschafft Gliese nun doch einmal ein rundes Objekt: es ist das Abbild der sich blütenartig entfaltenden, leuchtenden Lampe, die sich um sich selbst zu drehen scheint (6).
James Turrell hat mit künstlichen Lichtquellen wie auch mit der Sonne selbst seine bekannten Farbräume und auch räumliche Lichtecken geschaffen; will man aber überhaupt Vergleiche anstellen, dann scheinen mir am ehesten die Konstruktivisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts dem experimentierfreudigen Künstler verwandt zu sein, und in diesem Zusammenhang ganz besonders László Moholy Nagy. Der Ungar hat bekanntlich ein bahnbrechendes interdisziplinäres Werk geschaffen, indem er in seinen Arbeiten eine bewegte und bewegende Zwiesprache zwischen Objekt, Licht und Raum hervorruft. Selbst seine lichtgespeisten Fotos sind von dieser ruhigen inneren Bewegtheit erfüllt. Es geht hier nicht um das Formenvokabular im Einzelnen, vielmehr ist der freie, experimentelle, zugleich konzeptuelle Umgang mit solchen Stoffen und Disziplinen, zwischen denen auch Carsten Gliese hin und her manövriert, vergleichbar.